Bitte bleibt doch für immer

■ Am vergangenen Wochenende bezog das Junge Theater sein Interims-Domizil im Güterbahnhof – und alle sind begeistert

Wir haben sie vermisst, die zwei Schildchen, die Männer- und Damenklo an der Friesenstraße künstlerisch wertvoll voneinander schieden. Seit letztem Wochenende hängen sie wieder. Nachdem das Junge Theater fast ein Jahr lang Supermärkte, Parkhäuser und sogar Bürgers Wohnzimmer zur Bühne erklärte und damit die gute, alte, barocke Allegorie vom ganzen Leben als unendliches Theater bestätigte, haben sie nun endlich wieder eine feste Bleibe: eine riesige Halle im linken Arm des gigantischen U's des Güterbahnhofs, gleich hinterm Überseemuseum. Dort wurden einst Bahnschranken, Signale und Schilder montiert.

Werden derlei Leichenhallen abgestorbener Fabrikproduktion für kulturelle Zwecke reanimiert, dann schleppen hilfreiche Geister in der Regel haufenweise Krempel herbei, getrieben von einer Art horror vacui. Das Junge Theater aber hat sich in den zwei Monaten der Einrichtung und Abdunkelung so in den verwinkelten Raum verliebt, dass er sich jetzt relativ naturbelassen dem Publikum präsentiert. Nur eine bunt leuchtende Installation mit Gummibärchen-Kompott, eine schwer zerzauste Kronleuchterminiatur, ein paar Neonstäbe und blinkende Jahrmarktslichter zieren die graue Gruft. Und das Publikum ist über alle Generationen hinweg derart hingerissen von diesem Ort, der so passend mitten im Herzen der Stadt liegt und doch in schöner Abseitigkeit, dass es Intendant Carsten Werner bestürmt: „Bitte bleibt doch für immer hier.“ Aber das geht nicht.

Die Bundesbahn würde das Areal liebend gerne loswerden oder teurer vermieten. Deshalb steht im Mietvertrag über 4.500 Mark Warmmiete eine gefährliche Kündigungsfrist von drei Monaten. Nur die nahe Eisenbahnlinie bildet einen gewissen Garanten dafür, dass die Räume auch weiterhin billig zu haben sind. Eine Art Lärmschutz. Ein experimentelles Theater hingegen stört das laute Rattern der Züge nach Oldenburg nicht, frei nach John Cage, nachdem jedes Geräusch ein gutes Geräusch ist. Bei Blues-Brother-Fans löst es gar wohlige Erinnerungen aus, an die lustige Szene mit der Wohnung, die durch ein Bahngleis geteilt ist.

Eigentlich hat ja die Politik versprochen, dass das Junge Theater im Herbst 2000, dann im Frühjahr 2001 in die Schwankhalle im Buntentor einziehen kann. Aber in der Bremer Kulturpolitik wird zwar viel von Effizienz, New Management, Controlling und kurzen Wegen gesprochen, aber immer nur, wenn es um die anderen geht. Als neuer Einzugstermin steht derzeit das Frühjahr 2002 in den Sternen.

Nun könnte man von Carsten Werner wüste Schimpftiraden auf Kultursenator Bernt Schulte (CDU) erwarten. Aber Fehlanzeige. Schon bei Auszug aus der Friesenstraße sah die Theatercrew der Zeit der Obdachlosigkeit mit Abenteuerlust entgegen. Und fast alle, die dieser Freude über die erzwungene Herausforderung beiwohnten, dachten sich heimlich: Ihr Träumer werdet auch noch auf die Schnauze fallen. Doch es wurde nicht gefallen. Carsten Werner erzählt, dass sowohl er als auch die Mehrheit der Theaterbesatzung die Zeit des Vagabundierens genossen haben, wohlgemerkt als Übergangsstadium. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnten gleich eine ganze Reihe neuer SchauspielerInnen gewonnen werden. Spielorte wie das Parkhaus zogen eine neue, jüngere Publikumsschicht an. Finanziell allerdings war alles schwierig. Da statt 300 Aufführungen nur etwa 100 gewuchtet wurden, schrumpfte der Umsatz von der gewohnten Million (wovon übrigens nur etwa ein Viertel vom Steuerzahler kommt) auf etwa die Hälfte. Wie da das komplizierte Patchwork der mies dotierten Zeitverträge für SchauspielerInnen und Bürokräfte aussah, kann man sich vorstellen.

Zur Zeit zeigt das Junge Theater „Shoppen und Ficken“ von Mark Ravenhill und trennt für dieses Guckkasten-Kammerspiel ein kleines Eckchen der Halle ab. Da man aber zur Eröffnung der neuen Spielstätte den ganzen Raum mit seinen Treppen, Unterschlüpfen und Etagenbüros vorstellen wollte, zeigte man so genannte „Minidramen“ in Form von Raumbegehungen. Ein bemerkenswertes kreatives Potenzial offenbarte dabei der Warenaufzug. Als Zweisamkeitsidyll mit Bett und Vorhangrüschen wirkt er wie ein billiges Schmucckästchen in einer düsteren Welt. Ehepaare und ähnlich explosive familiäre Mischungen gucken so gähnend aus ihrer winzigen Bühne heraus, dass sich das angeglotzte Publikum prompt als lahmes Fernsehprogramm begreift. Dann kommt es entweder zu Jandlschen Redeexzessen über das Nichtreden oder zur Veralberung der Veralberung psychoanalytischer Familienstücke. Und man begreift: Dieser Raum macht mutig und lustig. Auch das Ravenhill-Stück.

In dessen Rezeption „bürgerte“ sich das Missverständnis ein, dass es sich bei bei drogentechnisch, sexuell und finanziell bedürftigen Menschen um ein dunkles Abseits dieser Gesellschaft handelt. Ausgesprochen relaxed dagegen und gar nicht shocking kommt das Stück in der neuen Kulisse daher, vor göttlichem Waschbeckengekachel, wunderbar-lindgrünem Industrieanstrich und charmanten Stromleitungs-Musterungen. Zwei Schilder, die zur Benutzung von Augenschutz auffordern – sie hängen schon seit Urzeiten an selbiger Stelle – verursachen nur ein Schmunzeln.

Alle sind begeistert, aber aus unterschiedlichen Gründen. Die reifere Generation denkt ergriffen darüber nach, ob es in dieser verkommenen Welt überhaupt noch große, wahre, tiefe Gefühle gibt. Die Youngsters dagegen verlieben sich glatt in diese Welt aus Tankstellenraub und Telefonsex. Und im Hintergrund brummen geduldig die gigantischen Heizgeneratoren ihr Lied, summsumm.

Pläne für die Zukunft? Alles offen, aber wahrscheinlich weiterhin Hardware von Sarah Kane und Konsorten und viel Improvisation statt des kalten Kalküls der festgelegten Wege. bk

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