Integration ist keine Einbahnstraße

Die einstigen „Gastarbeiter“ haben sich längst dauerhaft in Deutschland niedergelassen. Doch das Land verhält sich noch immer so, als gingen die meisten wieder. Dabei zeigt der Sechste Familienbericht: Nur wer eine langfristige Perspektive hat, investiert in Sprache, Ausbildung und Beruf

Damit kommtdie gesamte Integrationspolitik auf den Prüfstand

von NICOLE MASCHLER

Für die Arbeiter aus Italien, Griechenland und der Türkei war es der einzige Flecken Heimat in der Fremde, für die Stadtverwaltung nur ein organisatorisches Problem. Die in den 60er-Jahren geschlossenen Anwerbeabkommen verpflichteten Firmen, Wohnräume für die neuen Kollegen bereitzustellen. 1.400 „Ausländerbehausungen mit Unterkunftscharakter“ gab es Anfang der 70er-Jahre allein in München. Doch die meisten Unterkünfte entsprachen noch dem Standard für Bauarbeiterwohnheime aus dem Jahre 1934. „Pro Zimmer waren maximal acht, bestenfalls vier Mitbewohner untergebracht, die in unterschiedlichen Schichten arbeiteten. Es gab nur die notwendigste Einrichtung, Klo im Gang draußen. Die Duschen waren nicht im Wohnheim, sondern im Betrieb“, erinnert sich Theo aus Griechenland. Die Botschaft an die „Gastarbeiter“ war deutlich: Ihr seid hier nicht willkommen.

Allein – die ausländischen Mitarbeiter ließen sich nicht nach Konjunkturlage holen und wieder wegschicken. Der Sechste Familienbericht, den eine Expertenkommission im Auftrag der Bundesregierung erstellt hat, zeigt: Migration ist ein Familienprojekt. Die „Gäste auf Zeit“ leben seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik, haben Hausstände, Familien, Dauerexistenzen gegründet. Jeder dritte ausländische Jugendliche unter 16 Jahren ist in Deutschland geboren. Doch das Land verhält sich noch immer so, als gingen die meisten wieder. Das Gutachten, das nun auf dem Tisch liegt, hatte noch CDU-Familienministerin Claudia Nolte angefordert. Bereits im Januar vergangenen Jahres übergaben die Sachverständigen das 200-Seiten-Papier an ihre Nachfolgerin Christine Bergmann (SPD). Doch erst Mitte Oktober war auch die Stellungnahme des Kabinetts fertig. „Die übliche Ressortabstimmung“, erklärt das Familienministerium die Verzögerung.

„Der Bericht hat lange beim Innenministerium gelegen“, sagt dagegen Ekin Deligöz, sozialpolitische Sprecherin der Grünen. Kein Wunder, dürfte doch Otto Schily über das Expertengutachten nicht sonderlich erfreut gewesen sein. Denn ginge es nach den Wissenschaftlern, gehörte die gesamte Integrationspolitik auf den Prüfstand. Seit den 70er-Jahren haben immer mehr Migranten ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlagert. Nicht zuletzt weil seit dem Anwerbestopp 1973 der Familiennachzug für Nicht-EU-Mitglieder der einzig legale Zuwanderungsgrund ist. Doch statt auf die veränderten Verhältnisse mit neuen, langfristigen Konzepten zu reagieren, stemmten sich deutsche Politiker mit aller Macht dagegen. Ihre Strategie: Zuckerbrot und Peitsche. Anreize zur Rückkehr und Abschiebungen sollten die Zuwanderung unterbinden. Eine aktive, auf Eingliederung abzielende Politik blieb aus.

Daran änderte auch das neue Ausländergesetz von 1991 nichts. So mussten Antragsteller auch weiterhin ausreichenden Wohnraum nachweisen, um eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder gar eine Aufenthaltsberechtigung zu erhalten. „Ich hatte dann meine Zwillinge geboren, und die Wohnung war für uns alle zu klein. So schnell konnte ich aber keine neue Wohnung kriegen, und daher auch keine Arbeitserlaubnis – und ohne diese auch keine Aufenthaltserlaubnis. Nur wegen der Wohnung, wegen der paar Quadratmeter“, sagt Vesna B. aus Bosnien. Von den 2,05 Millionen Türken, der größten Migrantengruppe im Land, verfügten 1997 nur 520.000 über eine Aufenthaltsberechtigung, 535.000 besaßen eine unbefristete und 271.000 eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Alle anderen hatten überhaupt keinen eigenen Aufenthaltstitel. Dabei hängt die Lebensplanung entscheidend von sicheren Rahmenbedingungen ab. Nur wer eine langfristige Perspektive hat, wird in Sprache, Ausbildung und Beruf investieren. Integrationspolitik, das belegt der Bericht, ist zum großen Teil Familienpolitik.

Ausländische Frauen erschienen zumeist stereotyp in der Rolle des Opfers. Dabei haben sie gerade bei Erziehung und Ausbildung der Kinder ein gewichtiges Wort mitzureden. Damit tragen sie wesentlich zur Integration der Familie bei. Das hat nun auch das Familienministerium erkannt und eine Studie zur „Situation der ausländischen Mädchen und Frauen sowie der Aussiedlerinnen in Deutschland“ in Auftrag gegeben. „Empowerment“ lautet das Zauberwort – Hilfe zur Selbsthilfe durch Stärkung der Erziehungskompetenz und Ausbau der Sprachförderung. Denn entscheidend für die Integration sind Deutschkenntnisse. Doch die fehlen immer mehr Migrantenkindern. Dabei rühmt sich das Sozial- und Arbeitsministerium, vergangenes Jahr 34 Millionen Mark für Sprachkurse ausgegeben zu haben – nicht eingerechnet die 800 Millionen Mark an Eingliederungsleistungen für Spätaussiedler, Asylberechtigte und Kontingentflüchtlinge aus dem Topf des Innenministeriums. Die Integrationsangebote für Aussiedler galten lange als mustergültig. Seit 1993 fielen die Eingliederungshilfen jedoch Einsparmaßnahmen zum Opfer. So wurde die Dauer der staatlich geförderten Sprachkurse auf sechs Monate halbiert. Dabei, so die Sachverständigen, hätten die Aussiedlerkurse durchaus Modell für ein übergreifendes Sprachkonzept sein können. Tatsächlich sitzt die Bundesregierung derzeit an einem Gesamtkonzept, um künftig alle Zuwanderer mit einer dauerhaften Aufenthaltsperspektive gleich zu behandeln.

Doch den Ausländer, auch das zeigt der Bericht, gibt es nicht. Ob eine Familie integriert ist, hängt nicht zuletzt von Nationalität, Aufenthaltsstatus und sozialer Herkunft der Migranten ab. Das beweisen die Bildungskarrieren ausländischer Jugendlicher. So sind Kinder griechischer Nationalität weitaus erfolgreicher in der Schule als italienische, jugoslawische und vor allem türkische.

Zwar war die Aussicht auf bessere Bildungschancen vielfach der Grund, warum die Familien überhaupt ihre Heimat verließen. Aber Motivation allein reicht nicht aus. Das Problem: Viele Eltern können nicht beurteilen, welche Schule die beste für ihr Kind ist. Und auf Unterstützung durch die Lehrer können sie nur selten zählen. Denn viele Erzieher begreifen die Zweisprachigkeit ihrer Schützlinge eher als Hindernis denn als Gewinn.

Nicht umsonst mahnt die Kommission daher interkulturelle Kompetenz bei Schulen und Bildungsinstitutionen an. Universitäten und Fachhochschulen müssten verstärkt Studiengänge und interdisziplinäre Forschungsinstiutionen einrichten, die sich mit interkultureller Bildung, ethnischen Studien sowie interkulturell vergleichenden Familienwissenschaften beschäftigten.

Auch die Wohlfahrtsverbände müssten umdenken, fordert der Frankfurter Sozialwissenschaftler Stefan Gaitanides. „Träger wie Ausbildungsstätten sollten sich für eine Qualifizierungsoffensive stark machen.“

Otto Schily dürfte über das Gutachten nicht besonders erfreut gewesen sein

Das scheint auch bitter nötig: „Auch wenn Beraterin und Migrant die gleiche Sprache sprechen, heißt das noch nicht, dass sie sich verstehen“, weiß Deniz Dülec von der Interkulturellen Familienberatung in Berlin. Integration, das ist das Fazit des Berichts, ist keine Einbahnstraße. Lange bevor Unionsfraktionschef Friedrich Merz mit dem Begriff „Leitkultur“ eine breite Debatte über die Integrationspolitik lostrat, hat die Sachverständigenkommission einer derart ethnozentrischen Sichtweise bereits eine deutliche Absage erteilt.

In ihrem Gutachten haben die Experten Altbekanntes und einiges Neue zusammengetragen. Neu ist vor allem die umfassende Zusammenstellung des Materials. Und neu ist auch, dass die Politik sich gezwungen sieht, zu reagieren. „Der Bericht wird nicht in der Schublade verschwinden“, versprach die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Christel Hanewinckel, bei einer Veranstaltung des Diakonischen Werks in Berlin.

Die Arbeit der vom Innenminister berufenen Zuwanderungskommission dürfte der Bericht erleichtern. Während die Union noch um eine Position zur Einwanderung ringt, hat das Gutachten die Fakten längst festgeschrieben.

Kommissionsvorsitzende Rita Süssmuth (CDU), in den eigenen Reihen heftig für ihre Mitarbeit in dem Gremium attackiert, verhehlt ihre Genugtuung denn auch nicht: „Der Bericht hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können.“