„Der Fahrweg hängt am Tropf“


Moderation des Streitgesprächs: ANNETTE JENSEN
und KATHARINA KOUFEN

taz: Die Bahn ist seit 1994 eine privatrechtliche Aktiengesellschaft. Zu Beginn war von wachsendem Verkehrsanteil der Schiene und schwarzen Zahlen die Rede. Das Gegenteil ist der Fall. Wer ist verantwortlich für die Misere der DB?

Gottfried Ilgmann: Die Bahnreformer hatten eigentlich eine logische Strategie. Das Credo lautete Wettbewerb auf der Schiene. Es sollte mehrere Bahnunternehmen geben, die miteinander konkurrieren. Um das zu erreichen, hatte die Expertenkommission damals ganz klar geschrieben: Fahrweg und Transport sind zu trennen.

taz: Tatsächlich aber blieben die Schienen dann doch unter dem einen Dach des DB-Konzerns.

Ilgmann: Ja, um die Netzfrage tobte schon damals ein Streit. Die so genannte Regierungskommission Bundesbahn wollte eine möglichst breite Zustimmung für ihre Vorschläge haben. Nur so hatten sie überhaupt eine Chance, die Verfassungsänderung durchzusetzen, die für die Bahnreform nötig war. Deshalb hat sie manches nicht so provokativ ausgedrückt, wie man es hätte ausdrücken müssen, um ein Versagen der Politik anschließend zu vermeiden. Aber gemeint war: Netz und Betrieb müssen sofort getrennt werden.

Norbert Hansen: Glauben Sie nicht, dass das was gebracht hätte! Wenn Netz und Schiene tatsächlich getrennt worden wären, würde es heute noch schlimmer aussehen. Mit der Trennung hätte es auch keine wundersame Mehrung der Staatsgelder gegeben. Experten haben ausgerechnet, dass man für den laufenden Unterhalt und die notwendige Modernisierung über elf Milliarden Mark im Jahr braucht. Das ist dann gleich mal auf 9,7 Milliarden reduziert worden, weil Dürr [der erste Vorstandsvorsitzende der DB AG; die Red.] gesagt hat: Den Rest schaffen wir durch eigene Kraft. Und auch die 9,7 Milliarden sind dann nur in einem einzigen Jahr gezahlt worden. Immer, wenn die Regierung ihr Geld für andere Zwecke – zum Beispiel für den Kosovo-Krieg – brauchte, wurde bei der Bahn gekürzt.

Ilgmann: Geld vom Staat hätte es auch dann gegeben, wenn Netz und Bahnbetrieb tatsächlich getrennt worden wären. Aber wenn die Netz AG unabhängig vom DB-Konzern gewesen wäre, hätte das viel mehr private Bahnbetreiber ermutigt, auch ins Geschäft einzusteigen. Bis jetzt gibt es in ganz Deutschland nur etwas mehr als hundert Bahnen, die von privaten Unternehmen betrieben werden. Dann hätte es endlich mal Wettbewerb gegeben. Und Innovationen. So, wie es jetzt ist, werden potenzielle Bahnbetreiber doch abgeschreckt, weil der DB-Konzern weiterhin Herr über das Schienennetz ist: Der Konzernchef weist die Tochter DB Netz an, die eigenen Transportschwestern – also DB Regio und DB Reise und Touristik – zu begünstigen.

Hansen: Ich bin fest überzeugt, dass eine Trennung nicht zu mehr Verkehr auf der Schiene geführt hätte. Möglicherweise wäre der Wettbewerb kurzfristig angestiegen. Aber aufgrund des schlechten Zustands des Netzes wäre er dann wohl wieder weggebrochen.

Ilgmann: Ich habe große Bauchschmerzen, wenn ich mir ansehe, wohin die DB das Geld geschoben hat, das sie bekommen hat. Die DB baut lieber für Milliarden neue Strecken, als erst einmal im Bestandsnetz die riesigen Reserven zu erschließen. Solange die DB keine geeigneten Instrumente hat, um das Geld an die Stelle des höchsten Nutzens zu schieben, habe ich Probleme, der Bundesregierung zu empfehlen: Macht die Tube auf.

taz: Herr Hansen, wer ist dafür verantwortlich, dass das Geld falsch investiert wurde?

Hansen: Der erste Vorstand, Dürr und Co. Da gab es eine falsch verstandene Loyalität gegenüber dem Eigentümer Bund. Die Politiker wollten den Erfolg – koste es, was es wolle. Dürr hat dafür gesorgt, dass die Politiker ihren Erfolg kriegten. Er hat große Bahnhofsbauten und Hochgeschwindigkeitsstrecken auf den Weg gebracht und damit eine Anfangseuphorie erzeugt. Da war niemand im Vorstand, der sagte: Das geht so nicht, wir bauen hier eine Fassade auf, hinter der das Geschäft zusammenbröckelt.

taz: Wie könnte man denn solchen Entwicklungen künftig einen Riegel vorschieben?

Ilgmann: Um die Verschwendung bei der Bahn zu verhindern, könnte man den staatlichen Zuschuss abhängig von der Menge der Schienenkilometer machen, die die Bahn an andere Betreiber verkauft. Bei solch einer Konstruktion gibt es einen hohen Anreiz, das Geld dorthin zu schieben, wo es sofort zu mehr Absatz führt.

taz: Wäre nicht auch ein Börsengang eine gute Kontrollmöglichkeit? Aktionäre würden sich so etwas nicht bieten lassen . . .

Ilgmann: Die DB als Ganzes inklusive Netz an die Börse zu bringen, halte ich für nicht möglich. Der Fahrweg hängt auf Dauer am Investitionstropf des Bundes, alle Aktien sind bisher im Besitz des Staates. So etwas ist nicht an private Aktionäre zu veräußern, weil deren Rendite ja von der Laune des Finanzministers abhängen würde.

Hansen: Vor allem wollen Aktionäre möglichst schnell und viel Geld machen. Dazu taugt kein Unternehmen wie die Bahn, das immerhin auch heute noch gesetzlich zur Daseinsfürsorge verpflichtet ist. Vielleicht schwebt einigen aber auch ein hoch attraktives, lukratives Fernverkehrsnetz vor, das an die Börse geht. Dann allerdings könnten Sie das Streckennetz vergessen. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Shareholder dafür sorgen, dass alle Strecken abgestoßen werden, die nicht hocheffizient sind.

taz: Warum sind Sie so sehr gegen eine Trennung von Netz und Betrieb?

Hansen: Solange ich nicht erkennen kann, dass Netz und Betrieb organisatorisch überhaupt in der Lage sind, ohne einander zu existieren und dabei wettbewerbsfähig zu sein, halte ich es für gefärlich, das zu trennen.

Ilgmann: Wie ist das denn in einer normalen Branche, wo es Infrastrukturbetreiber und Nutzer dieser Infrastruktur gibt? Nehmen wir mal die Flugzeugindustrie: Da gibt es den Flughafen, die Luftüberwachung, die Hersteller, die Flugverkehrsbetrieber und den Wetterdienst. Alle Beteiligten sind getrennte Unternehmer, arbeiten aber eng zusammen. Und es gibt einen enormen technischen Fortschritt. Wenn die Dasa ein neues Flugzeug baut, gehen die zu allen Beteiligten hin und fühlen vor, wo dort Bedarf ist, machen einen Entwurf, koppeln dann wieder zurück. Da findet eine Optimierung statt. Warum nicht auch bei der Bahn?

Hansen: Sie sagen: Volle Karte auf Risiko, sonst passiert da nichts. Ich sage: Wachstum werden Sie nicht erreichen, wenn Sie jetzt in einem schon ziemlich anfälligen Organismus hoffen, dass das mit Selbstheilungskräften wieder nachwächst. Die Bahn muss erst einmal gesund gemacht werden. Erst dann kann sie wachsen.

Ilgmann: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die DB mit diesen Managementfehlern in der Vergangenheit noch einmal zur Blüte kommen kann.

Was ist die Perspektive für die Bahn?

Hansen: Es muss da investiert werden, wo es langfristig was bringt, und nicht nur da, wo es gut aussieht.

Ilgmann: So so. Hat die DB denn überhaupt die Pläne dafür?

Hansen: Daran wird gearbeitet. Ansonsten wüsste ich nicht, wie das System Bahn künftig besser funktionieren könnte.

taz: Sie plädieren also fürs Weiter-so?

Hansen: Zunächst, ja. Wenn die Investitionen vom Staat ausreichen, dann ist die DB AG fähig, auszubauen, zu modernisieren.

Ilgmann: Wer soll denn der Reformer sein? Wer soll das Heft in die Hand nehmen, sieben Jahre größerer Managementfehler aufzuarbeiten? Das geht nicht. Die Anforderungen, die an Bahnchef Mehdorn gestellt werden, kann er nicht erfüllen. Die könnte niemand erfüllen.

taz: Was tun?

Ilgmann: Ich möchte den Fahrweg organisieren wie eine Molkerei: Die, die die Milch liefern, halten sich eine gemeinsame Infrastruktur. Regional ist die Molkerei ein Monopolist – niemand kann es sich leisten, seine Milch ganz woandershin zu fahren. Aber wehe, der Molkereibetreiber handelt nicht rationell und hält den Vergleich zu anderen Molkereien nicht stand. Dann ist der Betriebsleiter sofort weg vom Fenster. Da drückt also der Milchmarkt sofort auf die Infrastruktur Molkerei durch. Und so stelle ich es mir auch auf der Schiene vor. Von der Verfassung her bleibt sie im Eigentum des Bundes. Aber die Bewirtschaftung und die Cleverness, wo investiert wird, sollte Gesellschaften obliegen, die im Eigentum der Transportbranche sind.

Hansen: Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Das sieht man gegenwärtig am Regent-Konzept. Hier sollten 37 regionale Schienennetze – vergleichbar den Molkereien – eingerichtet werden. Diese Strecken sollen andere Bahnbetreiber als die DB AG übernehmen. So wie es aussieht, wird die DB vielleicht für fünf bis sieben Regionalnetze kommunale oder private Partner finden. Das sind 700 bis 800 Kilometer. Im Umkehrschluss heißt das: Für 8.000 bis 9.000 Kilometer weiß man nicht, ob sie überhaupt gerettet werden können.

Ilgmann: Das ist doch eine unglaubliche Mogelpackung. Man nehme aus den Regionalnetzen, die ungefähr 20.000 bis 25.000 Kilometer lang sind, die schlechtesten 8.000 bis 9.000 Kilometer. Wenn man die gesamten Regionalschienen zu sinnvollen regionalen Netzen zusammenschließen würde, in denen jeweils gute und schlechte Strecken enthalten sind, würde das ein Renner. Aber die Netz AG will selbst auf den hoch interessanten Netzteilen sitzenbleiben und für die verbleibenden „guten“ auch noch die Regionalisierungsmittel kassieren, die dafür ursprünglich für alle, also auch für die „schlechten“ Strecken, vorgesehen waren. Die Länder werden dahinterkommen. Das gibt noch Knatsch.