Bonner Schäfchen in der Berliner Diaspora

Die christlichen Kirchen haben neuen Zulauf: Bonner Beamte füllen die katholischen Gotteshäuser, russlanddeutsche Aussiedler die evangelischen

von MARINA MAI

Franz-Joseph von Kempis ist Beamter im Bundesinnenministerium und Katholik. Seit seinem Umzug von Bonn nach Berlin ist er Mitglied der St.-Ludwig-Gemeinde in Wilmersdorf, und neuerdings ist die Kirche sonntags „rappelvoll“. Das gilt nicht nur für die St.-Ludwig-Gemeinde. Auch andere Gotteshäuser, besonders in Wilmersdorf und Zehlendorf, sind inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt.

Diese Entwicklung im sonst als gottlos verschrienen Berlin ist den Beamten aus Bonn und anderen Zuzüglern aus Süddeutschland und dem Rheinland zu verdanken. Die evangelischen Kirchen dagegen füllen vor allem russlanddeutsche Aussiedler. Der Regierungsumzug konnte einen jahrelangen Trend erstmals stoppen: Die katholische Kirche verzeichnete im vergangenen Jahr nach einem jahrelangen Mitgliederschwund erstmals einen leichten Zuwachs. Bei der evangelischen Kirche liegen für das Jahr 2000 noch keine Angaben vor. In den beiden Jahren davor fiel der Mitgliederverlust aber erheblich moderater aus als zwischen 1990 und 1997. Die nach offiziellen Angaben zwischen 20.000 und 30.000 Aussiedler aus den GUS-Staaten, die in Berlin neu zur evangelischen Kirche stießen, konnten den Mitgliederverlust nicht voll ausgleichen. „Wir rechnen bis 2003 mit 10.000 neuen Katholiken durch den Regierungsumzug“, sagt Andreas Herzig, Pressesprecher des Erzbistums. Derzeit hat das Bistum in Berlin 310.000 Mitglieder. Nicht absolut, aber prozentual schlagen die neuen Kirchgänger stärker in den atheistisch geprägten östlichen Zuzugsgebieten Mitte und Prenzlauer Berg zu Buche. In der erst 1999 eingeweihten Akademiekirche Hl. Thomas von Aquin, die sich im Regierungsviertel befindet, sind die Bonner unter sich. In anderen Gemeinden stellen sie etwa jeden dritten Gottesdienstbesucher. Dort haben die katholischen, teilweise auch die evangelischen Kirchen eine neue soziale Funktion bekommen: In den Osten gezogene Westler knüpfen in der Kirche untereinander Kontakte. „Ich habe mich lange Zeit gefragt, woher die Westeltern in der Schule meiner Tochter sich so gut kennen“, sagt eine Köpenickerin. Geklickt hat es bei ihr erst, als sich zwei Väter nach einer Elternversammlung zum Gottesdienst verabredeten.

Trotz ihres hohen Anteils prägen die Westler im Osten das kirchliche Leben kaum. Christoph Blin ist Pater der katholischen Gemeinde Herz Jesu im Prenzlauer Berg. Von seinen 3.500 Gemeindemitgliedern sind 1.200 in den letzten zwei Jahren neu hinzugestoßen, vor allem Studenten und junge Familien. „Die Neuen wollen das Gemeindeleben stärker konsumieren. Sie sind kaum zu ehrenamtlicher Arbeit bereit.“ Weil die Neumitglieder aber viel Geld in die Gemeindekasse bringen, kann die Gemeinde neue Angebote für Familien mit Kindern und für Jugendliche entwickeln.

Davon kann die Pfarrerin von Marzahn-Nord, Katharina Dang, nur träumen. „Wir sind reich an Menschen geworden, nicht an Geld.“ 1.200 ihrer 3.700 Gemeindemitglieder sind russlanddeutsche Aussiedler. Das Gemeindeleben im vor wenigen Jahren noch gottlosen Marzahn hat sich gründlich geändert.

Als die Pfarrerin 1992 hierher kam, verlor die Gemeinde in schwindelerregendem Tempo Mitglieder. Zuerst traten die so genannten „Karteileichen“ aus: Menschen, die in der DDR zwar getauft wurden, aber keinen Bezug zur Kirche hatten und völlig überrascht waren, als sie plötzlich Kirchensteuern zahlen sollten. Dann begann der große Wegzug.

Doch seit 1994 die Aussiedler hierher gezogen sind, freut sich Dang nicht nur über mehr Mitglieder; sie ist mit ganz anderen Themen als zuvor befasst: Im Gemeindezentrum werden Deutsch- und Computerkurse veranstaltet, es gibt ABM-Projekte für Sozialberatung und Kaffeegruppen, die Aussiedlern Begegnungen mit der alteingesessenen Marzahner Bevölkerung ermöglichen. Die Kirche leistet, wie eine Studie des Bezirksamtes belegt, für viele Aussiedler nicht nur Integrationsleistungen, sie ist auch ein wichtiger Arbeitgeber. Weil die Aussiedler fleißige Kirchgänger sind, stellen sie an den Sonntagen zwei Drittel der Gottesdienstbesucher. Anfangs, so Dang, hätte es kulturelle Konflikte gegeben, „aber jetzt freuen sich alle, dass wir so viele sind“.

Was die Pfarrerin so selbstverständlich sagt, ist es keineswegs. In Lichtenberg, Schöneberg und Spandau haben Aussiedler eigene Gemeinden gebildet, zu denen die Neubürger von weither kommen, weil sie sich in den „normalen“ Kirchengemeinden nicht wohl fühlen. Friederike Schulze, Aussiedlerbeauftragte der evangelischen Landeskirche , nennt die Konfliktfelder: „Viele Aussiedler haben Schwierigkeiten, einem deutschsprachigen Gottesdienst zu folgen. Die Predigten erscheinen ihnen zudem zu intellektuell. Einige lehnen Frauen als Pfarrerinnen ab und haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Umwelt ihre Art von Frömmigkeit oft nicht versteht oder verspottet.“

Wo Gemeinden soziale Angebote für Aussiedler machen, werden sie angenommen und haben oft auch Rituale mitgeprägt. Pfarrerin Dang: „Wir anderen stehen jetzt auch auf beim Gebet wie die Aussiedler, weil das so komisch aussieht, wenn viele stehen und wenige sitzen.“ Im Gegenzug hätten die Aussiedler ihre Gewohnheit aufgegeben, Kirchenlieder langsam und mehrstimmig zu singen. „Da hat unsere Orgel nicht mitgemacht.“