Ludwig muss lieben

Ach, Bella: Bei Martin Mosebach rutschen die Figuren zwischen die Poesie der Herzen und die Prosa der Verhältnisse – „Eine lange Nacht“ in Frankfurt

von WERNER JUNG

Frankfurt! Hier geht es (be-)sinnlicher zu als in anderen Großstädten. Autoren streifen durch ausgedehnte Erinnnerungslandschaften (wie Peter Kurzeck), sie flanieren am Main entlang (wie Wilhelm Genazino) oder entdecken eine nie endende Liebe wie neuerdings Martin Mosebach (Jahrgang 1951), der spätestens seit dem Roman „Die Türkin“ (1999) kein Unbekannter mehr in der deutschen Literaturszene ist. Der imposanten Skyline von Mainhattan zum Trotz ist das Leben irgendwie weniger hektisch, weniger enervierend, wiewohl – vielleicht auch gerade deshalb – der Beziehungsstressfaktor exponenzial zu steigen scheint.

Ludwig, Mosebachs Held aus seinem neuen, voluminösen Roman „Eine lange Nacht“, stellt in Bezug auf diese Analyse die Probe aufs Exempel dar. Nach einem gescheiterten Jurastudium geriet seine Existenz in die vermeintlich sichereren Bahnen von Handel und Wandel. Aber sie gerät ins Wanken, nachdem die junge Bella, angestellt als Sekretärin, aber eigentlich Mädchen für alles, in sein Büro und Leben eingedrungen ist. Nachdem sie mit ihrem Ehemann Fidi Lopez im selben Hauskomplex unterkam und der arme Ludwig einmal ihren Schattenriss beobachtete, ist es um ihn geschehen, mehr noch, ist nichts mehr so, wie es vordem war. „Am Souterrainfenster stand jetzt Bella ... Dieses Bild senkte sich in Ludwigs Seele und traf auf eine Stelle, die dort vorbereitet war.“

Die gegenseitigen Avancen fruchten, man verbringt tagsüber wunderbare Stunden in verschiedenen Betten, während Fidi aushilfsweise unterwegs ist, um im Auftrag Ludwigs pakistanischen Ramsch zu verhökern. Alles wäre mithin wunderbar, wenn .... ja, wenn nicht Fidi bei einem Autounfall ums Leben gekommen wäre. Zuvor hatte Ludwig sich geschworen, Fidi über sein Verhältnis zu Bella aufzuklären, war aber nicht dazu gekommen. Er und Fidi hatten eine feucht-fröhliche Tour verbracht. Und jetzt plagen Ludwig und Bella Gewissensbisse – eine Konstellation, die der literaturbeflissene Leser kennt, etwa aus Zolas Erstling „Thérèse Raquin“, bloß dass dort das Liebespaar tatsächlich Hand angelegt und den lästigen Ehemann in der Seine hat verschwinden lassen. Mosebach ist noch weit prosaischer – nichts Verbrecherisches ist nämlich gewesen, aber trotzdem.

Hinzu kommt noch, dass Ludwigs Vater todkrank dahinsiecht, schließlich stirbt, der Bruder Hermann in einer Sekte ums Seelenheil bemüht ist, Bellas Mutter Verdruss bereitet und überhaupt – hierin liegt ein weiterer Charme des Buches – schrullige Personen die Stadtlandschaft kreuzen. Etwa das Ehepaar Gutzmann; Ludwigs ehemaliger Geigenlehrer „war weißhaarig, aber sein Haar stand immer noch in virtuoser Entrüstung vom Kopf ab, einfach nicht zu bändigen.“

Martin Mosebachs grandioser Roman über Gott und die Welt, die Liebe und das Leben ist so wunderbar unterkomplex und herrlich banal, dass die großen Realisten des 19. Jahrhunderts ihn in ihre erste Reihe aufgenommen hätten – zusätzlich geimpft durch die erzählerischen Errungenschaften der Moderne. Mosebach selbst liefert – leicht verschlüsselt – sein poetologisches Rahmenprogramm gleich mit. Reichlich gegen Ende seines bisherigen Opus maximum kommt Mosebach auf das Verhältnis von Literatur und Leben zu sprechen und unterbietet dabei, listig zwinkernd, grandios Hegels Formulierung über den Roman als Darstellung der Rivalität zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse. Mosebach geht nämlich von der Nichtigkeit seiner Personnage aus: „Ludwig Drais und Bella Lopez als Helden eines Stücks von Shakespeare oder Schiller, eines Romans von Wolfram von Eschenbach oder Balzac – warum war das eine absurde, ja komische Vorstellung? Besaßen die Verkäufer von pakistanischen Billighemden keinen Anspruch auf ein Schicksal, oder war Ludwig im Besonderen die in der Schicksalsbuchführung zu vernachlässigende Größe, nach unten abgerundet, wenn sie auftauchte?“

Nein, wir sind froh, dass Martin Mosebachs Frankfurter Helden von der traurig-komischen Gestalt so gnadenlos minderbemittelt sind. Immerhin dürfen sie genauso schön ihr Liebesleben beenden, wie es seinerzeit wiederum schon Hegel prognostiziert hat: dass sich das Subjekt die Hörner abstößt, im Hafen der Ehe landet, um – so Mosebachs Pointe – nach der Heirat festzustellen: „dann war der Tag zu Ende, und an seinem Ende stand eine große Mauer, und dahinter war nichts.“

Martin Mosebach: „Eine lange Nacht“. Aufbau Verlag, Berlin 2000, 575 Seiten, 49,90 DM