Dies ist ein Tisch mit Erdnussbutter

Lauter schwere Geschosse: Zum Beginn der Werkraum-Premieren in der Berliner Schaubühne spielte Thomas Ostermeier den Bosnienkrieg, Gentechnik oder die Angst vor dem Rechtsradikalismus im Osten als Miniaturkomödien durch. Bei Rachel West quälte sich derweil die amerikanische Kleinfamilie

von CHRISTIANE KÜHL

„Ceci n'est pas une pipe“, schrieb René Magritte 1928 unter eine von ihm persönlich gefertigte, sehr anschauliche und eindeutige Zeichnung einer Pfeife. Trotzdem hatte der Belgier Recht, schließlich konnte man weder Bild noch Schriftzug rauchen. Joseph Kosuth erweiterte Mitte der Sechzigerjahre das Spiel um Ding und seine Repräsentation, indem er unter dem Titel „One and three chairs“ einen Stuhl vor eine Wand stellte, daneben ein Foto desselben hängte und ihm zur Seite den Schriftzug „chair“ plus lexikalische Definition. „This is a Chair“ nannte wiederum die englische Dramatikerin Caryl Churchill 1997 ein kurzes Stück, bei dessen deutscher Erstaufführung Thomas Ostermeier die Kunstgeschichte auf die Füße stellt: Wenn in der Schaubühne das Licht zur Vorstellung hochgefahren wird, steht im Spot auf der leeren Bühne – nichts als ein Stuhl.

„Wir spielen jetzt Theater“, hatte der Dramaturg Jens Hillje am Tag der Premiere in der Süddeutschen Zeitung verraten: eine Richtungsbestimmung exakt ein Jahr nach der Neueröffnung des Traditionstheaters unter dem jungen Leitungsteam. Mit „Das ist ein Stuhl“ und „Fluchtpunkt“ der jungen amerikanischen Dramatikerin Jessica Goldberg begannen am Freitag die Werkstatt-Premieren, eine neue Veranstaltungsreihe am Lehniner Platz, die erste Arbeiten von Assistenten, Schauspielern und Tänzern vorstellen soll. Dazu kann man den Regiechef der Schaubühne zwar kaum zählen, aber irgendwie war's doch ein Novum: Nach einer Reihe psychologisch/realistischer Stücke über soziales und menschliches Elend in der Wohlstandsgesellschaft hat der einstige Ernst-Busch-Schüler hier ein Stück inszeniert, das statt Inhalt Form reflektiert. Und komisch ist.

Acht Szenen – zusammen dauern sie nur 25 Minuten – zeigen voneinander unabhängige Situationen, Ausschnitte aus Alltagsdialogen. Eine Frau lässt ihr Rendezvous platzen, Eltern bitten ihr Kind, aufzuessen, ein schwules Pärchen streitet. Das ist so banal wie amüsant, weil das Identifikationspotenzial groß ist. Dazu tritt jedoch ein interessantes Verwirrungsmoment, weil jede dieser Szenen einen Titel hat, der während ihrer gesamten Dauer auf die Bühne projiziert ist. „Krieg in Bosnien“ steht da, „Pornografie und Zensur“, „Gentechnik“, „Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern“ – lauter schwere Geschosse, die man auf dem Theater ja auch gerne verhandelt sähe. Aber beim besten Willen nicht mit dem Gesehenen in Verbindung kriegen kann, obwohl das logische Denken reflexartig nach Entsprechungen sucht. Es muss sich geschlagen geben. Geschlagen auf dem Feld der Entsprechungen – über die Welt und ihre dramatische Bearbeitung darf weiter nachgedacht werden.

Wie „Dies ist ein Stuhl“ ist auch „Fluchtpunkt“ dem Schaubühnen-Publikum erstmals im Rahmen des Festivals Neuer Internationaler Dramatik (siehe taz vom 14. 11. 2000) in einer szenischen Lesung vorgestellt worden. Rachel West, Regieassistentin am Haus, zeigt mit der Inszenierung des Textes nun ihre erste eigene Arbeit. So richtig eigen aber ist die nicht: Einmal mehr zeigen junge Turnschuhe tragende Menschen möglichst naturgetreu Probleme, die sie selber nicht haben. Auch die Bühne bzw. Ausstattung von Anne Hölck kommt über das Naheliegende nicht hinaus. „Fluchtpunkt“ spielt in Amerika, also sehen wir einen Tisch mit Erdnussbutter, Coca-Cola, Heinz-Tomatenketchup und Fertigbackmischungen. Detailkopien bis zur brown paper bag, in der die Einkäufe heimgebracht werden, die aber doch so bemüht wirkt wie das „Baby“, mit dem André Szymanski Anna Schudt anspricht.

Nat (Robert Beyer) ist geistig und körperlich behindert, seine Eltern sind abgehauen, Schwester Becca (Marina Galic) nimmt Drogen. Schwester Amy aber ist eine gute Seele (in der Version von Schudt leider auch permanent grinsend), die die Mutterrolle perfekt übernommen hat. Dann zieht der arbeitslose Sam (Szymanski) in ihr Häuschen, auf den Amy all ihre unterdrückten Sehnsüchte des wilden Lebens projiziert. Er hingegen liebt sie und die Sicherheit, die das Familienleben verspricht. Der Konflikt endet mit ihrer Hochzeit, also gewissermaßen tragisch: Amy lässt alle Hoffnung auf Abenteuer und Selbstbestimmung fahren. Fernsehen/Biertrinken/Familie sei „das richtige Leben“, behauptet sie, wie man eines Tages, wenn man tot sei, erkennen würde. „Ceci n'est pas la vie“, steht da auf ihrer Stirn geschrieben. Das Theater darf solche Botschaften gerne selbst etwas abenteuerlustiger vermitteln.

„Fluchtpunkt“ von Jessica Goldberg, Regie: Rachel West, und „Das ist ein Stuhl“ von Caryl Churchill, Regie: Thomas Ostermeier, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin