Die Haft ist so erniedrigend

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt, ob der wegen der Deportation französischer Juden verurteilte Maurice Papon wieder freikommt

PARIS taz ■ Maurice Papon, der als Generalsekretär der Präfektur Gironde zwischen 1942 und 1944 die Deportation von mehr als 1.500 Juden aus Bordeaux in die Vernichtungslager organisierte, empfindet seine eigene Haft als „unmenschlich“ und „erniedrigend“. Wegen des hohen Alters und des angeblich angeschlagenen Gesundheitszustandes des Gefangenen halten seine Anwälte die Gefängnisstrafe sogar für einen Verstoß gegen das europäische Folterverbot und reichten Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Von heute an müssen die Straßburger Menschenrechtsrichter den Antrag prüfen.

Der 90-jährige Papon, der seine zehnjährige Haftstrafe als Komplize bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor knapp 15 Monaten antrat, ist damit bereits bei seinem dritten Vorstoß für eine vorzeitige Entlassung. Der französische Staatspräsident, der allein Begnadigungen aus Gesundheitsgründen aussprechen darf, lehnte bisher ab. Doch der Druck auf Jacques Chirac wird stärker. Nicht nur wegen einer etwaigen Verurteilung Frankreichs durch das Straßburger Gericht, die vor allem Appellcharakter hat. Sondern vor allem wegen einer innenpolitischen Kontroverse, bei der Papon unerwartete Fürsprecher gefunden hat.

Auslöser waren zwei Persönlichkeiten, deren moralische Integrität in Sachen Vichy-Regime und Kollaboration mit den Nazis außer Frage steht. Der sozialistische Exjustizminister und Sohn eines von den Deutschen Deportierten, Robert Badinter, und die einst im KZ Ravensbrück inhaftierte Gaullistin Germaine Tillion votierten in den vergangenen Tagen für eine vorzeitige Entlassung Papons. Badinter sagte, es gebe „einen Moment, an dem die Menschlichkeit Vorrang vor dem Verbrechen haben muss“. Tillion äußerte, dass Papon heute keine Gefahr mehr darstelle.

Während Papons Anwälte jublilierten, reagierten die meisten Nebenkläger verständnislos. Sie hatten beinahe zwei Jahrzehnte gebraucht, um den mit mächtigen Seilschaften ausgestatteten Spitzenbeamten Papon, der es in den 70er-Jahren bis zu einem Ministerposten in Paris gebracht hatte, vor ein Gericht zu bekommen. Michel Slitinski, dessen Familie in Papons Auftrag deportiert wurde, erinnert an die Kinder und Greise, die dank Papon in Todeslager kamen. Der französische Oberrabbiner Joseph Sitruk nennt den Entlassungsantrag „verfrüht“ und weist darauf hin, dass Papon niemals um Pardon gebeten oder irgendeine Art von Reue gezeigt habe. Der Anwalt und Präsident der Vereinigung von Söhnen und Töchtern deportierter Juden aus Frankreich, Serge Klarsfeld, erklärt: „Maurice Papon, der sich gerne mit Dreyfus vergleicht, erleidet eben nicht die Bedingungen der Teufelsinsel, sondern jene des Pariser Gefängnis Santé, wo er täglich medizinisch versorgt wird. Eine medizinische Begnadigung wäre nur angesichts eines nahen Endes zu rechtfertigen.“

Dort, wo in der Linken aus humanitären Gründen für eine vorzeitige Entlassung plädiert wird, weckt das üble Verdächtigungen. Badinter, so wird erinnert, habe als Justizminister „nichts dafür getan, dass Papon vor Gericht kam“. Und die linke Antirassismusorganisation Mrap, deren Führung sich für Papons Entlassung „aus Altersgründen“ aussprach, steckt in einer Zerreißprobe, weil viele Mitglieder diese Entscheidung nicht mittragen wollen. Am Rande der „humanitären Debatte“ melden sich nun auch wieder jene konservativen, Franzosen zu Wort, die von vornherein gegen ein Gerichtsverfahren gegen den Vichy-Spitzenbeamten Papon waren. „Wir Franzosen sind die einzigen“, heißt es in dem Wochenblatt Le Point, „die in einer über 50 Jahre zurückliegenden Vergangenheit wühlen.“

DOROTHEA HAHN