Das ferne Gestern, ganz nah

Eine Begegnung im Zug, und Minister Trittin, der über seine Vergangenheit gern schweigt, muss sich erklären. Seine Linie: Keine Diskussion

von PATRIK SCHWARZ

So sieht es aus, wenn ein Minister seinen Rücktritt bekannt gibt: Ein Anzug wie für eine Beerdigung. Ein Statement, angespannt wie ein Drahtseilakt, so ohne jede Abweichung vom Blatt gelesen, als bescherte selbst der kleinste Schritt neben das sichere Seil des Manuskripts den endgültigen Absturz. Fragen: keine. Dann der Abgang durch die Tür hinter der Bühne. Doch Jürgen Trittin tritt nicht zurück. Ihm erging es nur wie seinem Kollegen Fischer: Er hatte eine kurze Begegnung mit seiner Vergangenheit.

Trittins Nöte begannen mit einer Episode, einer halben Anekdote fast, über eine Zufallsbegegnung im Zug. Der Chemieprofessor Michael Buback erwähnte am Sonntagabend in der ARD-Sendung „Sabine Christiansen“, wie er auf der Fahrt zur Aufzeichnung in Berlin Herrn Trittin im Zug getroffen habe. Und weil der Professor 1977 seinen Vater verlor, als der Generalbundesanwalt Siegfried Buback von den Terroristen der RAF ermordet wurde, nutzte er die Begegnung mit dem früheren wilden Linken. „Und ich habe ihn gefragt: Herr Trittin, haben Sie sich inzwischen von diesem unsäglichen Buback-Nachruf distanziert? Und er hat zu mir gesagt: Warum sollte ich?“

Vielen Zuschauern ist Bubacks kurze Schilderung wahrscheinlich eher kryptisch erschienen, muss man doch zum Verständnis wissen, dass Studenten des Göttinger Studentenausschusses seinerzeit in dem anonymen Artikel den Mord „mit klammheimlicher Freude“ aufgenommen hatten (siehe Dokumentation Seite 12). Trittin war damals Student in Göttingen. In die TV-Sendung passte die Episode jedenfalls ganz gut, denn da ging es um die Frage: „Reißt Fischers Vergangenheit neue Gräben auf?“ Und wäre nicht drei Wochen lang in den Straßenbahnen und Feuilletons der Republik die Vergangenheit des Straßenkämpfers Joschka Fischer erörtert worden, müsste Trittin sich nicht plötzlich für einen Artikel rechtfertigen, an dessen Zustandekommen, so weit herrscht Einigkeit, er nicht beteiligt war.

Obwohl Trittin die Sendung nicht gesehen hatte, bemühte er sich, Buback persönlich zu erreichen. Auf dem Handy der grünen Parteifreundin Antje Vollmer, die auch zu Gast in der Sendung war, hatte er schließlich Glück. Trittins Angebot zu einem Gespräch mit Buback mag menschlich aufrichtig sein, war aber zugleich der erste Versuch, eine gesellschaftliche Diskussion wie um Joschka Fischer gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Bei der Besprechung des Ministers mit seinen engsten Mitarbeitern am Montagmorgen wurde die Linie zementiert: „Die Debatte totmachen.“ Doch schon im Laufe des Tages wird deutlich, dass Jürgen Trittin sich dadurch noch verwundbarer macht. Objektiv hat er es schwerer als Fischer, der bereits vor Beginn der jüngsten Auseinandersetzung wusste, dass die Deutschen ihn wegen, nicht trotz seiner Biografie immer wieder zum beliebtesten Politiker kürten. Und Trittins taktisches Handikap vergrößert sich noch, weil ihm die Fähigkeit abgeht, die Öffentlichkeit zu charmieren. In der Sache leidet seine Rechtfertigung daran, dass er Fragen zu seiner Vergangenheit, seinen Motiven und seinen Wandlungen seit Jahren abwehrt: Vielleicht ist Jürgen Trittin nicht nur ungeübt im Reden, sondern auch im Nachdenken über sich.

Als gegen 13 Uhr das negative Echo auf sein Statement vom Mittag zurück ins Ministerbüro schwappt, lädt Trittin eigens eine Hand voll Journalisten in sein Ministerium. Deutlich wird bei dem kurzen Gespräch vor allem, wie schwer es ihm fällt, 20 Jahre später zu vermitteln, warum er sich jenen Nachruf zwar ausdrücklich „nicht zu eigen machen“ will, eine Distanzierung aber ablehnt. Die Forderung des Michael Buback scheint zu viel für ihn, der sich noch erinnert, dass in den 70er-Jahren die Forderung, abzuschwören, „Distanzierungskeule“ hieß.

Draußen planen Union und FDP bereits, mit der Vergangenheit von Trittin die Auseinandersetzung um Joschka Fischer fortzuführen. Drinnen erzählt der Minister, aus dem Kommunistischen Bund, dem er zeitweilig angehörte, sei er übrigens rausgeflogen „weil ich entschlossen war, den Weg der parlamentarischen Demokratie zu gehen“. Da lächelt Jürgen Trittin, und über die Schulter schaut von der Wand der Bundespräsident huldvoll auf ihn herab.