strafplanet erde: glasklare hautfarbe
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DIETRICH ZUR NEDDEN

Die von vielen monoton beklagte Monotonie des Alltags beginnt morgens hier: unten im Treppenhaus. An ausnahmslos jedem Briefkasten klebt der höflich verkleidete Imperativ: „Bitte keine Reklame einwerfen!“ Wie so oft könnte man durch eine Kleinigkeit Abwechslung im Einerlei schaffen, etwa durch einen riesigen Aufkleber, auf dem stünde:

„Liebe(r) Prospektverteiler(in)! Bitte werfen Sie unbedingt ein Exemplar des von Ihnen so gewissenhaft ausgetragenen Druckerzeugnisses in meinen Briefkasten. Ich bin eine ältere, allein stehende Dame und öffne praktisch jeden Tag meinen Briefkasten ganz vergeblich. Finde ich nun Ihre Broschüre oder Einladung zur selbstverständlich unverbindlichen Kaffeefahrt vor, ist das doch wenigstens ein Anlass, mir einzubilden, dass jemand an mir interessiert ist, wenigstens an meinem Geld. Und ich habe kostenlos etwas zum Lesen, was nicht zu verachten ist, denn das Fernsehprogramm gefällt mir überhaupt nicht. Nur Sex und Krawall. Hochachtungsvoll: Ihre Frau X.“

Ein so ungeschützter Text wäre natürlich viel zu riskant, würde möglicherweise rumänische Einbrecherbanden anlocken. Schauen wir lieber mal in meinen Briefkasten: Am Montag Unicef, am Dienstag Ärzte ohne Grenzen, Kriegsgräberfürsorge am Mittwoch, zum Wochenende die Heinz-Sielmann-Stiftung und amnesty international. Vor Jahren habe ich ein einziges Mal Geld an Unicef überwiesen, vielleicht weil ich das Lied „Gutes Tun“ von Funny van Dannen falsch verstanden hatte. Jedenfalls übersteigt das Porto der folgenden Unicef-Briefe den damals eingezahlten Betrag bei weitem. Als aber immer mehr Hilfsorganisationen mich um Unterstützung baten, dachte ich mir folgendes: Wirklich Geld verdient Unicef dadurch, dass sie dauernd meine Adresse verkaufen.

Wenn dann die Haustür sich hinter mir Blitzmerker schließt, „gehe ich manchmal meine Straße ohne Blick“, um es glasklar mit Karat zu sagen, aber nur für den Schlag einer Sekunde, dann ist die Aufmerksamkeit wieder da, direkt vor der Bushaltestelle, deren Reklamewand neulich der Volkswagenkonzern gemietet hatte. Auf dem Schwarzweißfoto ist eine dunkelhäutige Frau zu sehen. Sie sagt: „Ich habe keine Vorurteile gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe. Viele meiner Freunde sind Deutsche.“ Dass diese Sätze inspiriert sein mögen von Reagans Ausspruch „Ich habe nichts gegen Homosexuelle, einige meiner besten Freunde sind homosexuell“, ist in diesem Fall nebensächlich. Die Aussage ist natürlich eine komisch gemeinte Umkehrung, vielleicht sogar Persiflage wohlfeiler Beteuerungen von Toleranz. Aber nach den Gesetzen der semantischen Logik behauptet diese Frau, dass diejenigen unter ihren Freunden, die Deutsche sind, weißhäutig sind. Und diese Botschaft, dass, sobald von Deutschen die Rede ist, nur Weiße gemeint sein können, kann doch eigentlich kein Gesicht zeigender, zivilcouragierter Mensch wollen. Das mag spitzfindig, beckmesserisch und wortklauberisch sein, aber die Frau war jenseits aller Worte einfach schön.