Die Versäumnisse in der Schule nach Auschwitz

Adornos Mahnung an die „Erziehung nach Auschwitz“ war nur eine Idee. Im Schulalltag kommen Holocaust und NS-Zeit eher zufällig und abstrakt vor

BERLIN taz ■ Seine Bilanz nach zwölf Monaten Amtszeit war mehr als düster. Das Ausmaß des Rechtsextremismus, stellte Paul Spiegel zum Jahreswechsel fest, sei erschreckend. Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland scheute sich nicht, die Verantwortlichen zu benennen. „Da muss es in vielen Elternhäusern und Schulen Versäumnisse gegeben haben.“ Mitte Januar traf sich Spiegel daher mit der Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Eva-Maria Stange – um die Schulen gegen rechts zu wappnen. Zu oft, so Spiegel, gingen Lehrer noch schuldbewusst an das Thema heran „oder ihm gar aus dem Wege“.

Die GEW-Chefin fordert auch von ihrer eigenen Klientel mehr Unterstützung – von den Lehrern. Eine systematische Fortbildung sei notwendig, so die aus Ostdeutschland stammende Stange, gerade in den neuen Bundesländern. Stange will nun Spiegel, die Kultusministerkonferenz (KMK) und die Schulbuchverlage an einen Tisch bringen. Doch Stange bleibt skeptisch, denn die KMK sei „manchmal zu schwerfällig“.

Zwar hatte deren bisheriger Präsident Willi Lemke (SPD) gefordert, Adornos „kategorischen Imperativ“ von der „Erziehung nach Auschwitz“ auch heute noch als Handlungsanleitung zu nehmen. Im weiter gültigen Beschluss von 1978 bekundeten die Kultusminister, dass die Schulen „diesen Gegenstand entsprechend den Richtlinien und Lehrplänen mit besonderer Intensität behandeln“ sollten. Trotz dieser Selbstbindung der Länder reagieren Kultusbeamte und Lehrer aber mit einer Mischung aus Aktionismus und Ratlosigkeit auf Rechtsextremismus.

Das Beispiel Nordrhein-Westfalens belegt das. „Die zurzeit gültigen Richtlinien/Lehrpläne für das Fach Geschichte ... weisen keine gemeinsame Konzeption und Struktur auf“, heißt es in einem Ländervergleich der KMK von 1997. Erstmals behandelt wird das Thema Nationalsozialismus und Holocaust in NRW in der zehnten Klasse. In der Oberstufe, betonen die Autoren, sollen die Lehrer die Fragestellungen dazu selbstständig entwickeln. Erfahrungen zeigten aber, dass das Thema nur „in der Regel“ zum Geschichtsunterricht in der Oberstufe gehört.

Und Brandenburg, durch die fremdenfeindlichen Übergriffe des Sommers aufgeschreckt, hatte im August eine breit angelegte Holocaust Education angekündigt. Seit dem Herbst trifft sich eine Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlern, Lehrkräften und Beamten des Bildungsministeriums, die bis Ende März einen entsprechenden Entwurf erarbeiten soll. Ab dem Schuljahr 2001/2002 soll das Thema Holocaust fächerübergreifend und von der ersten bis zur 13. Klasse behandelt werden.

1999 startete Annette Imsande mit ihrer siebten Klasse am Gymnasium Strausberg ein Projekt zur Unterstützung der Holocaust-Gedenkstätte Yad Leyeled in Israel. Bei einem Besuch des Museums, das die Judenverfolgung speziell Kindern erklären soll, war der Lehrerin vor zwei Jahren aufgefallen, dass es keine deutsche Übersetzung der vom Tonband laufenden Tagebucheinträge und Briefe verfolgter jüdischer Kinder gab. Die Zwölf- bis Dreizehnjährigen, die daraufhin Texte in deutscher Sprache aufnahmen, seien durch die Erlebnisberichte aus Yad Leyeled „emotional berührt“ gewesen.

Vom engen Begriff der Holocaust Education ist man indes im Potsdamer Bildungsministerium schon abgerückt. Erziehung zu Toleranz und Demokratie gehe „weit über Holocaust Education hinaus“, sagt Sprecher Martin Gorholt.

Tatsächlich ist es eine offene Frage, ob der Rückbezug aktueller Themen auf Auschwitz immer hilfreich ist. Matthias Heyl von der Hamburger „Forschungs- und Arbeitsstelle Erziehung nach/über Holocaust“ warnt vor einer Pädagogik, die den Gegenwartsbezug im Sinne des Slogans „Damals waren es die Juden, heute sind es die ... ?“ herstelle. Diese Form der Enthistorisierung sei „unangebracht“.

Ohnehin lässt ein Engagement wie in Strausberg kaum den Vergleich mit Regelunterricht zu. Die Gefahr sei groß, warnt Heyl, über dem „Minoritätendiskurs“ den Normalunterricht aus den Augen zu verlieren.

Die Sorge scheint nicht unberechtigt. 1998 haben Schweden, Großbritannien, die USA eine „Task Force“ in Sachen Holocaust ins Leben gerufen. Die Task Force hat bisher vor allem durch eines von sich reden gemacht – durch Mammutkonferenzen, zum Beispiel einem Besuch von 30 Delegationen aus Ministerialbeamten und Wissenschaftlern in Buchenwald. Die Deutschen, betont eine KMK-Sprecherin, hätten darauf gedrungen, dass die Arbeit vor Ort nicht aus dem Blick gerät. NICOLE MASCHLER