Türkei beginnt Frankreich-Boykott

Ankara ergreift Vergeltungsmaßnahmen gegen französische Resolution zum Völkermord an den Armeniern

ISTANBUL taz ■ Das türkische Massenblatt Hürriyet ist wie immer vorneweg. Statt über Sinn oder Unsinn eines Boykotts französischer Waren zu diskutieren, veröffentlicht der Kolumnist Fatih Altayli, einer der größten Chauvinisten des Blattes, eine Liste französischer Waren, die der gute Türke künftig nicht mehr kauft. Die türkische Bevölkerung, so der Tenor fast aller Medien, sei getroffen von der Anmaßung der französischen Nationalversammlung, die in der letzten Woche den „Völkermord am armenischen Volk im früheren Osmanischen Reich“ verurteilt hatte.

Am Wochenende verbrannten Demonstranten vor der französichen Botschaft Fahnen. Es gibt Aufrufe, Elf- und Total-Tankstellen zu meiden und Reisen nach Frankreich zu stornieren. Die türkische Regierung äußerte ihr Befremden darüber, von einem ausländischen Parlament für einen Vorfall verurteilt zu werden, der laut Ministerpräsident Bulent Ecevit „so nie stattgefunden hat“. Er forderte Frankreich auf, die Resolution zurückzunehmen und drohte mit Vergeltungsmaßnahmen. Gestern war es dann so weit: Verteidigungsminister Sabahattin Cakmakoglu kündigte einen 149-Millionen-Dollar-Vertrag für einen Aufklärungssatelliten mit der französischen Firma Alcatel und drohte, Frankreich von einem geplanten Panzergeschäft auszuschließen.

Handelsboykotte schaden immer beiden Seiten, doch der größte Schaden für die Türkei ist ihre zunehmende Isolation. Denn auch das europäische, italienische, griechische und russische Parlament hatten ähnliche Armenier-Resolutionen verabschiedet. Im US-Präsidentschaftswahlkampf forderten die Republikaner, Schulen zu verpflichten, über den Genozid an den Armeniern zu informieren. In Israel gab es eine Debatte, neben des Holocaust auch des Völkermords an den Armeniern zu gedenken. Bald werden das britische Unterhaus und andere europäische Parlamente debattieren, was den Armeniern im Osmanischen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts angetan wurde.

In der Türkei stößt dies bis in die Reihen der kritischen Intelligenz auf Unverständnis. „Die sollen doch erst einmal zugeben, was sie in Algerien angestellt haben“, heißt es im Falle Frankreichs. Die Deportation, Vertreibung und Ermordung hunderttausender Armenier zwischen 1915 und 1920 sind aus offizieller Sicht Teil des Krieges, den das Osmanische Reich damals an der Seite Deutschlands und Österreichs gegen Russland führte. Man habe armenische Aufständische im Grenzbereich zu Russland eben deportieren müssen – da könne doch von Völkermord keine Rede sein. Eine Überprüfung dieser These will man nicht zulassen. Für Historiker, die der offiziellen Position kritisch gegenüberstehen, sind die osmanischen Archive de facto geschlossen. Und wer von Völkermord spricht, wird strafrechtlich verfolgt. Stattdessen klagt Ankara lieber über die einflussreiche armenische Lobby. Die finde überall dort, wo man gegen eine Annäherung der Türkei an die EU sei, offene Ohren. Nur wenige Politiker und Publizisten schlagen vor, endlich die Aussöhnung mit den armenischen Nachbarn einzuleiten. JÜRGEN GOTTSCHLICH