In der Ukraine rollen die Köpfe

Vizepremierministerin Tymoschenko wird entlassen. „Reporter ohne Grenzen“ legen Bericht zum Fall Gongadse vor

BERLIN taz ■ Die Gelegenheit war günstig: Noch während der ukrainische Staatspräsident Leonid Kutschma zu wichtigen Gesprächen in Berlin weilte, kam für das Regierungsmitglied Julia Tymoschenko das Aus. Am vergangenen Freitag erhielt die Vizepremierministerin von Kutschma ihre Entlassungspapiere. Tymoschenko wird vorgeworfen, während ihrer Zeit als Chefin des größten privaten ukrainischen Energiebetriebes Vereinigte Energiesysteme der Ukraine (UES) Mitte der 90er-Jahre am illegalen Export von russischem Gas rund 1,8 Milliarden Dollar verdient sowie Dokumente gefälscht und Steuern hinterzogen zu haben.

Tymoschenko stand bei Kutschma schon länger auf der Abschussliste, und das aus gutem Grund. Schließlich hatte sich die 40-Jährige, die als engste Vertraute des reformorientierten Premierministers Viktor Juschenko gilt, zum Ziel gesetzt, den Korruptionssumpf im Energiesektor trockenzulegen.

In der heutigen Ukraine bedeutet das jedoch eine Kriegserklärung an die Oligarchen und damit genau an diejenigen Kräfte, die Kutschma unterstützen. „Es war nicht der Präsident, der das Entlassungsdekret unterzeichnete, vielmehr wurde ihm die Hand von denen geführt, die jetzt und auch künftig versuchen, alles von der Ukraine in ihre Taschen zu stecken“, bemerkte Tymoschenko denn auch in einem Interview mit der Wochenzeitung Serkalo Nedeli. Sie kündigte an, mit ihrer Vaterlandpartei, die sich bisher als eine der entschiedensten Unterstützer des Reformkurses im Parlament hervortat, die Regierung weiter zu unterstützen, gleichzeitig aber das Regime aus der Opposition zu bekämpfen.

Damit dürfte der Machtkampf, der die Ukraine seit Monaten fest im Griff hat, eskalieren. Zumal es an anderen Stellen weiter brodelt. So wurde am Montagabend in der Stadt Charkow die Leiche des Parlamentsabgeordneten Juri Kononenko gefunden. Kononeno saß im Parlamentsausschuss für Pressefreiheit, der sich aktuell mit dem Tod des regimekritischen Journalisten Georgi Gongadse beschäftigt – ein Fall, der internationales Aufsehen erregt.

Anfang der Woche legte die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ einen Bericht zum Fall Gongadse vor. Demnach wurde der Journalist bereits Monate vor seinem Verschwinden verfolgt und bedroht – eine Tatsache, die sich die zuständigen Behörden weigerten, zur Kenntnis zu nehmen. Auch die Untersuchungen nach dem Fund eines kopflosen Toten – wahrscheinlich Gongadse –, während derer Behinderungen und Bedrohungen von Freunden und Verwandten weitergingen, legen den Verdacht nahe, dass die Ermittler alles versuchten, um die wahren Umstände des Falles zu verschleiern. Sollten auch in den kommenden Monaten keine Fortschritte bei der Aufklärung des Falles zu verzeichnen sein, empfiehlt „Reporter ohne Grenzen“ dem Europarat, die Mitgliedschaft der Ukraine auszusetzen.

In Straßburg liegt der Fall Gongadse in dieser Woche auf dem Tisch. Den Abgeordneten des Europarats sollen Bänder vorgespielt werden, die von einem sozialistischen Politiker im November öffentlich gemacht wurden und eine Mitschuld von Präsident Kutschma am Verschwinden von Gongadse beweisen sollen. Bisher behauptet Kiew, die Authentizität der Bänder sei nicht festzustellen. Dem widersprach in der vergangenen Woche der Abgeordnete Grigori Omelchenko. Seinen Angaben zufolge hätten internationale Organisationen, die sich mit dem Kampf gegen organisierte Kriminalität beschäftigen, die Stimmen eindeutig identifiziert.

BARBARA OERTEL