Ein bekennender Quotenkiller

■ Seit 1962 sammelte der Storyjäger Alexander Kluge 1000 kluge Geschichten, so klug, dass man sie nicht immer versteht, aber gern über sie nachdenkt. Dafür gibt es heute den Literaturpreis

or ein paar Monaten jubilierte bereits Michael Rutschky – ausgerechnet unser Meister rüpelhafter Desillusionierung (kurz: Nöhlpfeife) – in der taz über Alexander Kluges „Chronik der Gefühle“, jenes opus magnum, nach dem sich ein Autor nur noch ins Grab werfen kann. Und viele andere Kundige (der Spiegel, aber nicht die ZEIT) kohtauten mit, bis zur unantastbaren Jury der SWF-Bestenliste.

Jetzt erhält der in München lebende, promovierte Jurist, Filmemacher (bereits das Erstlingswerk „Abschied von gestern“ durfte 1966 zu den Venedigfestspielen reisen) und seit 1993 hymnisch gefeierte VOX/Sat1/RTL-Unterwanderer und bekennende Quotenkiller (schmuckloser als „10 vor 11“ kann man gescheite Gespräche nicht nichtinszenieren) also auch den Bremer Literaturpreis – übrigens nach 1979 schon zum zweiten Mal, was ganz einmalig ist.

Dieser Mann mit seiner unerbittlich-freundlichen Stimme, der gegenüber selbst Bioleks Toskanaküche-Oregano-Organ als melodramatisch bezeichnet werden muss, wird also morgen um 12 Uhr im Bremer Rathaus von Foto-Blitzen und Reden umschwärmt werden. Eigentlich keine typische Kluge-Situation. Denn Kluges Interesse wird dann geweckt, wenn das allgemeine Interesse erschlafft.

Zum Beispiel bei einem Endspiel der amerikanischen Football-Liga. Fällt dies Großereignis wegen Regens ins Wasser, schaltet der Durchschnitts-Konsument das TV ab – und Kluge ein. Er freut sich kindsköpfisch an der Not der Kommentatoren, welche die Abwesenheit des Ereignisses mit hilflosen Worten umdribbeln müssen; zumindest solange, bis die Hauptwerbeblöcke durch sind: Das klimatische Missgeschick nämlich gebiert so wunderbare Wortgewächse wie das vom „besonders kurzfädigen Regen“ oder vom „besoffenen Rasen“, viel schöner als läppische Tore.

Dies ist ein Beispiel der hohen Kunst des wahren Beobachtens. Eines von vielleicht 500 Stück, die Kluge auf den 2.000 Seiten seiner Chronik zusammencollagiert (in heutiger DJ-Terminologie: gesampelt) hat. Die zwei Bände sind aber nicht eine simple Collage, sondern die Collage aus Collagen aus Collagen, frei nach Adornos „Das Ganze ist das Unwahre“, vielleicht aber auch nach diesen ineinandergeschachtelten russischen Holzpuppen: Alte Textsammlungen („Unheimlichkeit der Zeit“, 1977, „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“, 1973, die berühmte Stalingrad-Montage „Schlachtbeschreibung“ 1964), deren einzelne Textbrocken zum Teil selber wieder aus Dutzenden von Lebensminiaturen zusammengeklebt sind (der berühmte unendlich lakonische „Luftangriff auf Halberstadt“ mit seinen 100 verschiedenen Todesarten am 8.4.1945 in Kluges Geburtsort), wurden von Kluge zerlegt, neu komponiert und mit neuen Textsammlungen durchwirkt. Das Ergebnis ist aber kein Sammelband, sondern „eine Einheit“, die allerdings, so das Vorwort, jeder Leser speziell für sich und den Tag selbst herstellen muss.

Es geht um die Welt der Oper (die Rückeroberung reiner Emotionen durch höchste Künstlichkeit bei Puccini oder Wagner), um Kriege (Napoleons Ägyptenfeldzug), Zeitenwenden (Französische Revolution oder die Wiedervereinigung), den Ufa-Film, antike Mythologie oder jene bewusst unglaubwürdige Kunstfigur von einem Filmvorführer, der so unter den Schrammen seiner Filmkopien leidet, dass er jedes Interesse an den Filminhalten verloren hat; es geht um das Schicksal von Millionen, oder das von Leni Peikert, egal.

Geschichte konstruiert (was auch bedeutet: rekonstruiert) sich bei Kluge immer aus GeschichteN, vielen Geschichten. „Ein Unglück wie Stalingrad ist unmöglich mit zwei Augen zu sehen...“. Wie in Goethes Definition des symbolischen Denkens schlängeln sich die heimlichen Schleichwege der Erkenntnis nur über das Einzelne zum Allgemeinen.

Aber im Unterschied zu Goethe ist dieses Allgemeine amorph: Was ist denn bitte schön die Quintessenz jenes „besoffenen“ Football-Rasens des besoffen-drauflosredenden TV-Kommentators? Etwa ein Einblick ins böse System der Medien? Gähn, nein. Eher, dass die Zusammenhänge von Ursache (Regen) und Wirkung (Wortspiel) viel abenteuerlicher und komplizierter sind, als unsereins in seiner liebevoll-gehegten Lebenslangeweile oft denkt. In einem der Minitexte entscheidet zum Beispiel die Zufälligkeit einer ärztlichen Diagnose (doch kein Krebs) über die Loyalität eines DDR-Beamten zu seinem untergehenden Staat. Oder an anderer Stelle: „Ursachen liegen 72 Tage oder 700 Jahre zurück“ – in Wahrheit natürlich immer beides. Wie in der Archäologie findet sich hinter jeder Vergangenheitsschicht noch eine tiefere, und so ist Gegenwart nicht ohne Geschichte und Politik nicht ohne Privates (vice versa) zu begreifen.

Schon beim ersten Werk („Lebensläufe“, 1962) mischt Kluge Reales und Erfundenes, und zwar für den Leser ununterscheidbar. Und Heiner Müller lässt er mal sagen, dass manche Dinge sich nur mit fiktiven Geschichten wahr erzählen lassen.

Und an anderer Stelle erfährt man, dass auch die vielen-vielen Heiner-Müller-Zitate im Buch zum Großteil aus jener Möglichkeitswelt Musils stammen, die zwar von größter Wahrhaftigkeit ist, aber nicht zwingend wahr. Etwa die irrwitzige Story von der Premiere von Wagners Lohengrin in Leningrad, ausgerechnet am Tag des deutschen Überfalls, und die Rettung dieser Premiere durch die ideologische Umdeutung des Werkes binnen Stunden: die grandiose Erfindung des unwahrscheinlichen Zusammenstoßes von Wagner und Krieg bringt Chancen wie Gefahren eines Schlüsselmoments auf den berühmten Punkt.

Aber huch, die Story ist historisch verbürgt, behauptet zumindest der Buchanhang. Und so erweist sich die Wirklichkeit als der beste Regisseur aberwitziger Zufälle, und Kluge als ihr bester Fährtenleser. Und manchmal schnuppert er so feinnervig wie eine Trüffelsau, dass der Leser rein gar nichts kapiert und beim Haareraufen stöhnt: „Hilfe, was will er nur?“ Aber das gehört dazu. Übrigens: Wenigstens die Story von Heidegger als philosophischer Beobachter der Schlachten auf der Krim ist echt gelogen.

Den Förderpreis erhält in diesem Jahr Raphael Urweiders Gedichtband „Lichter in Menlo Park“. Auch dies ein nervender großer Wurf, hier aber im Kleinen. Es gibt Sätze, Subjekt, Prädikat, Objekt. Doch es gibt keinen Punkt, Komma, nix. Und manchmal lappt ein Subjekt von einem Satz in den nächsten und der Sinn schwimmt dazwischen – was ein hochelaboriertes Verfahren ist, welches Staunen macht, manchmal auch Fragen: „Was soll's.“ Die Gedichte über Galilei, Gutenberg, Pasteur, Edison, Curie etc. aber doubeln Kluge: Den großen Etappen des Weltgeistes einen neuen Sinn entlocken. bk

Heute um 18 Uhr zeigt das Waller Kommunalkino Kino 46 den wohl bekanntesten Film von Alexander Kluge „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“. Die Einführung hält Kluge selbst. Um 20 Uhr gibt es eine Lesung der beiden Preisträger im Schauspielhaus des Bremer Theaters. Der Eintritt zu dieser Veranstaltung ist frei.