„Teil eines Machtkampfes“

Der Herausgeber der „Tiananmen-Akte“, Andrew J. Nathan, zu den Reaktionen des chinesischen Staatsapparats auf die Veröffentlichung der geheimen KP-Protokolle aus der Zeit der Niederschlagung der Studentenbewegung von 1989

INTERVIEW: SVEN HANSEN

taz: Was hat Sie davon überzeugt, dass die von Ihnen veröffentlichten Tiananmen-Papiere echt sind?

Andrew J. Nathan: Zunächst der Inhalt des Manuskripts selbst, das von Zhang Liang auf unser Drängen aus den zahlreichen Dokumenten auf 516 Seiten auf Chinesisch zusammengestellt wurde. Es wirkte auf uns unparteiisch und vollständig. Wir konnten auch Fakten gegenchecken, die zwar uns, aber nicht der Öffentlichkeit bekannt waren. Das komplexe Manuskript beinhaltet sehr viele Dinge, von denen wir bei keinem einzigen den Eindruck hatten, es sei nicht authentisch.

Der zweite Grund war Zhang Liang selbst und seine Erklärung über seine Absichten und Hintergründe. Das war nicht nur plausibel, sondern sein Hintergründ wurde mir auch durch Quellen in China bestätigt. Drittens habe ich das Manuskript einigen Experten gezeigt, die wie der damalige US-Botschafter James Lilley 1989 in Peking waren. Auch sie halten die Papiere für authentisch. Und viertens haben wir seit der Veröffentlichung Bestätigungen der Authentizität von Chinesen erhalten, die damals an den Ereignissen beteiligt waren. Auch China-Experten haben dem Ergebnis unserer Prüfung zugestimmt und indirekt letztlich auch die chinesische Regierung.

Der Sprecher des Außenministeriums hat die Papiere nur indirekt als Fälschung bezeichnet. Haben Sie mit solch einer merkwürdigen Reaktion gerechnet?

Ich hatte keine klaren Erwartungen, da Chinas Regierung verschieden hätte reagieren können: Sie hätte das Material direkt als Fälschung bezeichnen oder aber auch seine Wahrheit einräumen können, oder sie hätte mich und meine Kollegen angreifen können, ohne auf das Material näher einzugehen. Letztlich hat sie nichts dergleichen getan, sondern nur gesagt, dass jeder Versuch, Material zu fälschen, nutzlos sei. Sie hat damit nicht direkt gesagt, dass unser Material gefälscht sei. Das hat mich überrascht, weil es die denkbar ineffektivste Reaktion war. Es ist eine stillschweigende Anerkennung der Authentizität.

Und vor wenigen Tagen hat Chinas höchstes Gericht eine Gesetzesinterpretation vorgenommen, nach der auf den Verrat von größeren Staatsgeheimnissen die Todesstrafe steht. Da bisher nur der Verrat militärischer Geheimnisse mit der Todesstrafe geahndet werden konnte, zeigt das für mich, dass man jetzt eine Gesetzeslücke schließt, nachdem hier jemand durchgeschlüpft ist. Das werte ich als Hinweis auf die Authentizität der Papiere.

Ihr Informant Zhang Liang will mit der Veröffentlichung eine Neubewertung des Tiananmen-Massakers erreichen und KP-Hardlinern wie Li Peng schaden. Könnten die Papiere nicht auch den gegenteiligen Effekt haben und einen Schulterschluss in der Führung bewirken?

Zhang Liang will in der Tat eine Neubewertung und politische Reformen in China erreichen. Es ist durchaus möglich, dass die Veröffentlichung eine Bunkermentalität der Führung bewirkt. Jiang Zemin und Li Peng sind die mächtigsten Männer im 23-köpfigen Politbüro, dessen Mitglieder meist ihre Posten den beiden verdanken. Es gibt nur wenige, die 1989 eindeutig auf Seiten der Reformer standen und auch heute noch Teil der Machtstruktur sind. Das Politbüro wird sich einer Neubewertung der damaligen Ereignisse wohl verwehren. Das Buch wird sie nicht dazu zwingen können, auch wenn es Druck ausübt.

Der Regierungssprecher betonte in seiner Reaktion explizit, dass die Führung einig sei. Das könnte im Gegenteil auf einen Machtkampf deuten. Haben Sie Anzeichen dafür, und ist das Buch ein Teil davon?

Ja, das Buch ist Teil eines Machtkampfes. Wie Zhang Liang sagt, verlangen diejenigen eine Neubewertung, die politische Reformen wollen. Den Kampf um diese Reformen gibt es seit mindestens Mitte der 80er-Jahre, und Tiananmen ist ein Ausdruck davon.

Sind Ihnen parteiinterne Reaktionen auf die Veröffentlichung bekannt?

Nein. Außer den offiziellen Reaktionen gibt es aber Diskussionen unter Chinas Intellektuellen, von denen viele das Material für wahr halten und andere einige Zweifel haben.

Die als Kritikerin der Kommunistischen Partei bekannte Journalistin Dai Qing, die 1989 zwischen Regierung und Studenten vermitteln wollte, vermutet, dass Zhang Liang mit der Veröffentlichung vor allem Geld verdienen wollte. Was halten Sie davon?

Die Einnahmen aus dem Buch stehen in keinem Verhältnis zu dem großen Aufwand und machen sicher niemanden reich. Der Kommentar von Dai Qing zeigt einen in China verbreiteten Mythos, dass Bücher über China im Westen eine großes Publikum finden. Doch mit ernsthaften Büchern über China kann man selten viel Geld verdienen.