„Der Europarat demonstriert Machtlosigkeit“

Sollte Russland das Stimmrecht zurückerhalten, würde das russische Militär dies als Freibrief werten, meint der Menschenrechtler Oleg Orlow

taz: Der Kreml hat den Oberbefehl in Tschetschenien der Armee entzogen und angekündigt, einen Teil der Truppenverbände abzuziehen. Wird das die Lage entspannen oder ist das erneut ein Manöver, um Engagement nur zu simulieren?

Oleg Orlow: Wir würden die Entscheidung begrüßen, sollte die Ernennung des FSB-Chefs Patruschew tatsächlich dazu führen, wahllose Bombardements und Festnahmen einzustellen. Aufgabe des russischen Geheimdienstes FSB ist es, das Hauptaugenmerk auf antiterroristische Maßnahmen zu lenken. Ist der Geheimdienst dem Auftrag aber gewachsen? Ich bezweifle es. Und sobald der Geheimdienst mit von der Partie ist, bedeutet das leider auch: es wird noch mehr verheimlicht als ohnehin schon.

Der Europarat entscheidet heute, ob die russische Delegation das ausgesetzte Stimmrecht zurückerhält. Sie haben in den letzten Tagen in Straßburg zusammen mit amnesty international und Human Rights Watch versucht, der Öffentlichkeit klarzumachen, dass die Ruhe an der Medienfront nicht bedeutet, die Lage im Kaukasus hätte sich seit dem Frühjahr zum Besseren gewendet. Nimmt der Europarat das zur Kenntnis?

Wir sind dagegen, dass die parlamentarische Versammlung der russischen Delegation das Stimmrecht ohne Gegenleistungen zurückgibt. Der Europarat sollte wenigstens eine unmissverständliche Resolution verabschieden, die verlangt, die Menschenrechtssituation grundlegend zu verbessern. Das wirksamste Mittel, den Kreml zum Umdenken zu bewegen, wäre wohl, Russland vor den europäischen Kadi zu zitieren. Wenn sich nur ein Staat fände, der den Mut aufbrächte, Russland anzuklagen, dann hätten wir auch nichts dagegen, die Delegation wieder mit vollem Wahlrecht auszustatten. So wie es im Moment aussieht, demonstriert der Europarat nur seine Machtlosigkeit gegenüber Moskau. Das ist ein Armutszeugnis, für beide – Russland und Europa.

Kurzum, Sie erwarten nichts Gutes...

Richtig. Man wird wahrscheinlich den Weg des geringsten Widerstandes gehen und versuchen, sich möglichst ohne Gesichtsverlust aus der Affäre zu ziehen. Wie die offizielle Propaganda eine solche Entscheidung in Moskau verarbeitet, liegt doch auf der Hand: Europa hat den Rückzug angetreten! Na endlich, nun haben sie nicht nur begriffen, sondern auch eingestanden, dass wir in Tschetschenien einen gerechten Krieg führen. So dürfte der unterschwellige Tenor sein. Von der Resolution des Europarates – wie scharf sie auch ausfallen mag – erfährt die Mehrheit der Bevölkerung ohnehin nichts.

Die Spirale der Gewalt wird sich weiterdrehen?

Wenn der Europarat Russland das Stimmrecht wiedergäbe, hätte das für das Kriegsgeschehen eindeutige Konsequenzen: Warum sollten sich die Militärs dann noch an Auflagen halten? Sie werden dies als Freibrief werten. Eine schlimmere Niederlage kann die tschetschenische Bevölkerung nicht erleiden. Aber auch für alle Kriegsgegner in Russland wäre das ein harter Schlag. In Europa höre ich immer: Ihr seid ein verlorener Haufen, die Mehrheit unterstützt doch den Krieg. Der Eindruck trügt. Die Gegner müssen ihren Widerstand nur effektiver koordinieren.

Hat die OSZE zurzeit eine Möglichkeit, im Kaukasus etwas auszurichten?

Die Vertreter der OSZE in Moskau bemühen sich seit Monaten darum, nach Tschetschenien zu kommen. Erfolglos, weil der Kreml sie behindert. Die OSZE als Organisation unternimmt jedoch nicht genug und übt kaum Druck auf die Verantwortlichen aus.

Steuert der Kreml in Richtung einer autoritären Modernisierung ?

Es sieht danach aus. Der Druck in den Provinzen auf nichtstaatliche Organisationen wächst spürbar. Und zwar von Seiten der Exekutive und Legislative. Gleichzeitig kappt der Staat alle Kontakte, die bisher zu gesellschaftlichen Organisationen bestanden haben. Brücken werden von heute auf morgen eingerissen. Dahinter steckt die unverblümte Haltung: Das Volk hat uns bei den Präsidentenwahlen ein überwältigendes Mandat erteilt, und wir wissen, was zu tun ist. Daher brauchen wir das Gespräch mit gesellschaftlichen Organisationen nicht.

Interview: KLAUS-HELGE DONATH