ich gedachte nicht siegfried bubacks. eine selbstbezichtigung von WIGLAF DROSTE
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Gut erinnere ich mich an den Todestag des Generalbundesanwalts Siegfried Buback. Es war in den Osterferien 1977. Meine Eltern hatten es für eine Idee gehalten, mich ein Praktikum bei der Sparkasse absolvieren zu lassen. Ich war 15, in der Sparkasse war es vor allem langweilig. Ich sortierte Formulare und frankierte Briefe. Betreut wurde ich von einer älteren Dame, die Zeugin Jehovas war und tatsächlich Frau Göttlicher hieß. Von sporadischen Bekehrungsversuchen abgesehen war sie sehr nett. Die Sparkassenfiliale hatte eine eigene Kantine. Eines Mittags kam der Filialleiter hereingestürzt und fiel uns vor Aufregung fast ins Essen. „Generalbundesanwalt Siegfried Buback ist von der RAF ermordet worden!“, schrie der Mann atemlos. „Ich bitte Sie, jetzt aufzustehen und eine Gedenkminute einzulegen.“ Wie Angestellte so sind, standen gleich alle auf. Nur Frau Göttlicher und ich blieben sitzen. „Diese weltlichen Dinge gehen mich nichts an“, sagte die Zeugin Jehovas. Ich sagte nichts. Alle starrten uns an. Als sie ihr Schweigen beendeten, ließen sie ihren Kammerjägerfantasien freien Lauf. „Kopf ab!“-Gemurmel quoll ihnen aus den Köpfen. Ein halbes Jahr später, nach der Ermordung des früheren SS-Offiziers Hanns Martin Schleyer, war die deutsche Volks- und Notgemeinschaft dann endgültig hysterisiert. Die gesamte Presse warf jegliche Restunabhängigkeit von sich und machte begeistert Polizeiarbeit. Diese kollektive Finsternis im Jahr 1977 war der initiale Grund für die Erfindung der taz.

Warum hätte ich zum Gedenken an Siegfried Buback aufstehen sollen? Damals, mit 15, erschienen mir die RAF-Leute als Robin Hoods: Sie schienen den miesen restnazistischen Deutschen die Angst einzujagen, die ich ihnen nicht einjagen konnte. Den Landsleuten war alles zuzutrauen: Regelmäßig konnte man sie dabei beobachten, wie sie auf den überall aushängenden Steckbriefen die Erschießung einer Terroristin oder eines Terroristen mit Kugelschreiber oder Filzstift noch einmal ganz persönlich nachvollzogen und ein Gesicht auskreuzten. In ihren Hinrichtungsfantasien wussten sie sich kollektiv und staatlich gedeckt. Dieses Potenzial schien mir weit bedrohlicher als ein paar Desperados, die dem Staat den Vorwand zu seiner Bis-an-die-Zähne-Bewaffnung lieferten.

Sich für etwas zu schämen, das man gedacht oder getan hat oder dafür um Entschuldigung zu bitten, ist eine ganz persönliche und private Angelegenheit. Wenn öffentliche Scham von Bild, Christiansen und anderen Volkssturm-Medien eingefordert wird, ist das die schamlose Soße, deren Herstellung das Geschäft eben dieser Medien ist. Es wäre hilfreich gewesen, wenn Jürgen Trittin die aufdringliche Marzipankartoffel Michael Buback nicht im zweiten Anlauf doch noch um Verzeihung angebettelt hätte. Jetzt darf sich der amtsklebrige Minister bei jedem geschichtslosen Denunzianten dafür entschuldigen, dass es ihn gibt, und alle Grünen müssen auf die Knie vor der Pietätsaufpasserin Angela Merkel, die soeben zur deutschen Grünkohl-Königin gewählt wurde, dem Amt, das ihr zukommt.