Schmale Schatten

Martina Hingis pustet Venus Williams vom Platz und trifft im Endspiel der Australian Open auf Jennifer Capriati

MELBOURNE taz ■ Von Anfang an hatte Martina Hingis die Ahnung, der Tag X sei nun gekommen. Lag es am Gefühl für die eigene Stärke nach dem eindrucksvollen Sieg gegen Serena Williams, lag es am Eindruck, den deren Schwester Venus beim mühevollen Erfolg gegen Amanda Coetzer hinterlassen hatte? Es war eine Kombination aus beidem, die gestern zu einem überraschend einseitigen Spiel führte, das die Schweizerin in weniger als einer Stunde 6:1, 6:1 gegen Venus Williams gewann. Und zur Belohnung für den ersten Doppelsieg gegen die Schwestern bleibt Hingis nun im Finale die Titelverteidigerin erspart, denn Lindsay Davenport war bei der Niederlage gegen Jennifer Capriati (3:6, 4:6) nicht mehr als ein schmaler Schatten ihrer selbst.

Nie in einem wichtigen Spiel bei einem Grand-Slam-Turnier wirkte die 20-jährige Williams dermaßen indisponiert wie an diesem schwülen Donnerstag in Melbourne. Sie drosch Bälle meterweit ins Aus, und fast sah es aus, als sei die Lebensmittelvergiftung, die Serena nach der Niederlage gegen Hingis erwähnt hatte, mit einem Tag Verzögerung Venus auf den Magen geschlagen. Eine Erklärung für all das hatte sie nicht. Es blieb bei der Floskel: „Das passiert ab und an selbst den Besten von uns.“

Das muss Martina Hingis nicht kümmern. Die war so fix auf den Beinen, als habe es die Anstrengung aus dem Spiel mit Serena gar nicht gegeben. Sie erledigte ihren Part mit Entschlossenheit, Ruhe und Akuratesse. Die Schwestern in Folge zu schlagen, sagt sie, sei immer ein physisches Problem gewesen, doch der Erfolg zeige nun, wie sehr sie an sich gearbeitet habe.

Die Grundlagen für den Erfolg hat sie im Winter gelegt. Während der Spielpause ist sie in Saddlebrook/Florida, wo die Familie Hingis ein Haus besitzt, jeden Tag Jennifer Capriati begegnet. Die beiden waren auf getrennten Plätzen bei der Arbeit, doch sie folgten dem gleichen Gedanken: Wer in Melbourne in Form sein will, der darf den kurzen Winter nicht vertrödeln. Wer sich an Hingis’ Klage nach der Niederlage im Finale des vergangenen Jahres erinnert („Ich weiß einfach nicht, was ich gegen Lindsay tun soll“), der ahnt, dass ihr die Wendung gelegen kommt, zumal sie in bisher fünf Spielen mit Capriati erst einen einzigen Satz verloren hat. Doch von dieser Bilanz solle man sich nicht täuschen lassen, meint Hingis. „Ich habe ihre letzten beiden Spiele hier gesehen, und ich weiß, wie gut sie ist. “

Für Jennifer Capriati, man mag es kaum glauben, wird das Spiel am Samstag der erste Auftritt im Finale eines Grand-Slam-Turniers sein. Elf Jahre nach dem spektakulären Beginn mit 14 im Halbfinale der French Open in Paris, nach Irrungen und Wirrungen zuhauf, hat sie nun etwas geschafft, was viele nicht mehr für möglich hielten. Vor einem Jahr hatte sie an gleicher Stelle im Halbfinale gegen Davenport verloren, diesmal war sie mutig und bereit. Und als es darum ging, wie viele solcher Beweise sie noch brauche, um zu glauben, dass sie bei den Besten sei, sagte sie: „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich dazugehöre.“ Jetzt wissen es die anderen auch.

DORIS HENKEL