Prophet in eigener Sache

Es ist wie damals: Überalterung, steigende Lebenserwartung, Geburtenrückgang. Und auch Riesters Modell kommt Wolfgang Mischnick bekannt vor

aus Kronberg HEIKE HAARHOFF

Abgeordneter Walpert (SPD): „Frau Kollegin Kalinke sprach von der Überalterung des Volkes. ... “

Abgeordnete Kalinke (DP): Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß die gestiegene Lebenserwartung nicht ohne weiteres mit den Rentenzugängen in Beziehung gesetzt werden kann und daß sich die Sterbetafeln, die ja wohl die Grundlage für solche Berechnungen bilden, keineswegs geändert haben oder auf eine günstige Entwicklung schließen lassen?“

(Zuruf links und von der Mitte: Was heißt „günstig“?)

Abgeordneter Walpert (SPD): „ ... Ich möchte mir in diesem Hause nicht gestatten, anderen Menschen die Lebenserwartung abzusprechen.“

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/CSU)

Debatte zur ergänzenden Rentengesetzgebung, Deutscher Bundestag, 26. 11. 1958

Wie vorausschauend sie gestritten hatten! Welcher Politiker kann schon von sich behaupten, Debatten geführt zu haben, die selbst 40 Jahre später kaum an Aktualität eingebüßt haben? Wolfgang Mischnick, Jahrgang 1921, FDP-Politiker, Bundesminister a. D., sitzt sehr aufrecht auf seinem heimischen Sofa in Kronberg im Taunus und soll sich erinnern. An damals, an die Rentenreform von 1957, die große der noch jungen Bundesrepublik, die Reform mit dem revolutionären Versprechen, Renten würden nicht länger willkürlich festgelegt, sondern abhängig von der Lohnentwicklung, die Basis aller weiteren Rentenreformen und -reförmchen. Bis heute, da der 14. Deutsche Bundestag über das „Altersvermögensgesetz“ abstimmen will.

Wolfgang Mischnick auf seinem Sofa also erinnert sich, und neben ihm sitzt eine Teddybärensammlung, die jeden Kindergartengänger blass werden ließe. Interessen ändern sich, die Zeiten auch: Das Haar ist ihm weiß geworden, die meisten seiner politischen Mitstreiter und Kontrahenten, mit denen er, zunächst einfacher Abgeordneter, später als Fraktionsgeschäftsführer der FDP, Ende der 50er-Jahre in Bonn um die Reform der Rente rang, sind längst tot, an Namen und Existenz mancher Partei, die in den Protokollen Erwähnung findet, kann sich heute kaum mehr jemand erinnern, aber die Knackpunkte, sagt Wolfgang Mischnick, die sind die gleichen geblieben: Überalterung der Gesellschaft, steigende Lebenserwartung aufgrund medizinischen Fortschritts bei gleichzeitigem Geburtenrückgang, kurz, immer mehr Menschen, die Rente brauchen, und immer weniger, die dafür bezahlen: „Wir können nicht sagen, die Schwierigkeiten, vor denen wir heute stehen, wären damals für uns nicht absehbar gewesen.“

Abgeordneter Dr. Schellenberg (SPD): „Es muß doch zweifelsfrei geklärt sein, wie diese Mittel, nämlich die 750 bis 800 Millionen DM, beschafft werden. Ihre Erklärung, daß sie aus den Kassenüberschüssen der Rentenversicherung aufgebracht werden sollen, ... steht doch in erstaunlichem Widerspruch zu den Ausführungen, die Sie (Arbeitsminister Storch, CDU; d. Red.) vor diesem Hause vor noch nicht einem Jahre ... gemacht haben. Sie haben ... erklärt, ein etwaiger jährlicher Überschuß werde unbedingt für spätere Rentenzahlungen benötigt, weil sich schon im Laufe der nächsten fünf Jahre die Zahl der Beitragszahler verringere, aber die der Rentner erhöhen werde. ... Sie werden sich erinnern, daß Sie ... erklärt haben, daß die im Lebensalter über 65 Jahre Stehenden in den nächsten 25 Jahren um 70 Prozent – also über den Daumen gerechnet pro Jahr um 3 Prozent – anwachsen werden.“

Rentendebatte Deutscher Bundestag, 21. 5. 1954

Abgeordnete Kalinke (DP): „Es ist für uns alle außerordentlich bedenklich, den Rentnern schon heute sagen zu müssen, daß weitere Anpassungen in gleicher Höhe ... bestimmt aber in ferner Zukunft nicht mehr alljährlich möglich sind.“

Bundestagsdebatte zum Gesetz über die Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen, 6. 11. 1959

„Wenn wir damals schon reagiert hätten“, sagt Wolfgang Mischnick, „wenn wir damals und nicht erst heute eingesehen hätten, dass der Staat nicht für alles aufkommen kann, sondern dass die Rente zu Teilen auch aus privater Vorsorge finanziert werden muss“, er macht eine Pause, doch das erwartbare Seufzen bleibt aus, „uns wäre heute viel Ärger erspart geblieben.“

Ob Walter Riester je ahnte, dass ausgerechnet ein Altliberaler das Kernstück seiner heutigen Reform, die Riester nun als sozialdemokratischen Wert zu verkaufen sucht, bereits vor 40 Jahren einführen wollte? Der Gewerkschaftsfreund wäre wohl über den ungewollten Schulterschluss mit dem Wirtschaftsfreund nicht eben glücklich.

Wie auch immer: 1957 waren weder Zeit noch Umfeld danach, den Menschen im Nachkriegsdeutschland ausgerechnet eine zusätzliche private Rentenabsicherung durch Eigenheimerwerb, Bausparverträge oder Aktien schmackhaft zu machen.

Nach Jahren der Zerstörung, des Chaos, des Hungers und der Entbehrung galt es zuallererst, sagt Wolfgang Mischnick, „den Menschen eine planbare Zukunft zu geben“. Allen voran den Alten, den Gebrechlichen, den Flüchtlingen, den Kriegsgeschädigten, den Witwen, den Heimatvertriebenen. Mit Würde sollten sie behandelt werden, so viel war klar, nach allem. Irgendwie musste sichergestellt werden, dass Rentner, egal welcher Herkunft, künftig ein Auskommen hätten, ohne dabei auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. „Das klingt jetzt vielleicht etwas theatralisch“, räumt Wolfgang Mischnick ein. „Aber es ging damals nicht wie heute bloß um einen Schlagabtausch, ob das Rentenniveau nun 64 oder 67 Prozent betragen wird.“ Der Blick wird ernst. „Es ging damals um das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung.“

Die Idee vom „Generationenvertrag“, nach dem die Kinder für Renten und Krankenkosten der Eltern zahlen, wurde Gesetz. Und: Die Rente, ursprünglich bereits unter Bismarck eingeführt, sollte nicht länger ein Akt der Willkür der jeweiligen Regierung bleiben, sondern für jeden Einzelnen berechen- und nachvollziehbar sein: Wer ein Leben lang hart gearbeitet hatte, sollte im Alter genug Geld haben, um seinen Lebensstandard zu halten. Lohn und Rente müssten demnach verkoppelt werden.

Was sprach auch dagegen? Die Wirtschaft der 50er-Jahre boomte, der Wohlstand wuchs, und seine Verteilung nach sozialen Kriterien half, das wusste der Bundeskanzler, das System stabil und die Gesellschaft von Spannungen weitgehend frei zu halten. „Die Rente ist sicher“, frohlockte Konrad Adenauer. 1957 wurde die Rentenreform von CDU/CSU und SPD beschlossen. „Wir von der FDP“, sagt Wolfgang Mischnick, „mussten angesichts einer solch breiten Mehrheit an der Rentenfront mit unseren Einwänden, die ja nicht gegen die Rentenversicherung zielten, sondern gegen ihre Finanzierung, wie einsame Rufer erscheinen.“

Abgeordneter Dr. Atzenroth, (FDP): Sie (Arbeitsminister Blank, CDU, d. Red.) haben ... in der breiten deutschen Öffentlichkeit, vor allem aber bei den betroffenen Rentnern, den Eindruck erweckt, als ob ... künftig die Renten immer parallel zur Entwicklung des Lohnes blieben. Wir haben damals gesagt: Das Versprechen, das ihr den Rentnern gebt, könnt ihr niemals halten. Es kann vielleicht für eine vorübergehende Zeit gehalten werden. Aber im Laufe der Zeit, wenn die Vermögen aufgebraucht sind, wird die bittere Ernüchterung kommen.“

Debatte zur ergänzenden Rentengesetzgebung, Deutscher Bundestag, 26. 11. 1958

Nur ein einziges Mal, erinnert sich Wolfgang Mischnick, fand seine Idee mit der privaten Rentenvorsorge als weiterer Säule neben der staatlichen Versicherung bei Adenauer Gehör. Es war 1963, und Mischnick war im letzten Kabinett des CDU-Kanzlers zum Bundesminister für Vertriebene aufgestiegen: „Ich hatte auf einem FDP-Parteitag eine Grundsatzrede zur Rente gehalten.“ Daraufhin bat Adenauer ihn zur Unterredung in sein Büro. Es folgte: nichts.

„Wissen Sie“, sagt Mischnick, „bei der Rentenfrage spielte schon immer Traditionelles eine große Rolle.“ Er könnte auch sagen: Für eine Idee muss man zuweilen 40 Jahre unermüdlich reden, bevor sie sich durchsetzt.

Abgeordneter Mischnick (FDP): „Aber der Staat sind doch wir alle, d. h. wir haben dann, wenn die Bilanz negativ werden sollte, dafür zu sorgen, daß den Rentenversicherungsträgern über den Haushalt die entsprechenden Mittel zufließen. ... Deshalb ist unserer Auffassung nach jene Konstruktion gefährlich, die die Möglichkeit ... in sich birgt, daß die letzte Ausflucht ein erhöhter Staatszuschuß ist, also praktisch der Steuerzahler in Anspruch genommen werden muß, damit man das, was im (Renten-)Gesetz versprochen ist, erfüllen kann.“

Abg. Dr. Schellenberg (SPD): „Aber das ist alles Prophetie, was Sie sagen!“

Bundestagsdebatte zum Gesetz über die Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen, 6. 11. 1959

Prophetie. Wolfgang Mischnick grinst listig. „Wissen Sie“, sagt er dann, „die Rente auf ein Drei-Säulen-Modell zu stellen, also in etwa so, wie es der Riester jetzt vorhat, mit privater Eigenvorsorge und so, das kommt mir irgendwie bekannt vor.“