Streiken für die Rente mit 60

Pläne der Arbeitgeber, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, bringen in Frankreich 200.000 Menschen auf die Straße. Auch die Beamten drohen mit einem Ausstand

PARIS taz ■ So einig sind die Franzosen selten: Sämtliche Gewerkschaften hielten gestern einen Aktionstag gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ab. Mindestens 200.000 Junge und Alte folgten dem Aufruf. Selbst manche Patrons schlossen sich an. Zur Verteidigung der „retraite“ mit 60 demonstrierten und streikten sie an über 75 Orten und legten einen großen Teil des Landes lahm.

Hauptangriffsziel war der Arbeitgeberverband „Medef“, der mit einem Ultimatum Druck gemacht hatte. Nachdem die Gewerkschaften die „Verlängerung der Beitragszahlungszeit“ ablehnten, hatte Medef-Chef Ernest Antoine Seillière die Patrons aufgefordert, keine Beiträge mehr in die komplementären Rentenkassen zu zahlen. Diese Hauruckmethode war selbst in seinen Kreisen auf Kritik gestoßen. Die meisten Patrons zahlen weiter Beiträge. Einige wichtige Stimmen aus dem Patronat lehnten sich gegen die Verschiebung des Rentenalters auf.

Die Rente mit 60 gehört zu den großen sozialen Neuerungen, die Frankreich bei der „Libération“ 1944 einführte. Ihre Infragestellung begründet Seillière mit Demografie. Überall in Europa sei das Rentenalter verrückt worden, Frankreich könne nicht mehr „cavalier seul“ spielen. In den kommenden Jahren will Seillère die Lebensarbeitszeit von 40 auf 45 Jahre verlängern.

Schon bei der Einführung der 35-Stunden-Woche hatte Seillière Oppositionspolitik gegen die rot-rosa-grüne Regierung betrieben. Damals folgte ihm ein Gros der Patrons. Bei den Renten ist das anders. Gerade die Patrons haben die „komplemenären Rentenkassen“ schätzen gelernt, um sich ihrer über 50-jährigen Mitarbeiter, vielfach Traditionsgewerkschaftler, kostengünstig Richtung Vorruhestand zu entledigen und stattdessen junge, unorganisierte Leute einstellen zu können.

Umstritten ist auch der „Bankerott“ der Rentenkassen, den Seillières als „unmittelbar bevorstehend“ beschreibt. Das staatliche Statistikinstitut Insee sieht erst ab 2002 Handlungsbedarf.

Premier Lionel Jospin wirft Seillière „Katastrophismus“ vor. Doch ganz wohl kann sich auch die Regierung angesichts der Demonstrationen nicht fühlen. Vor allem von Beamten wird sie als Arbeitgeberin heftig kritisiert. Ein sozialistischer Minister hat dem öffentlichen Dienst jetzt eine Solderhöhung von 0,5 Prozent angeboten und die Gewerkschaften, die mehr wollen, als „archaisch“ beschimpft. Das sorgt für Unmut. Am 30. Januar wollen auch die Beamten streiken. DOROTHEA HAHN