: Pizza-Toni gegen den Frust
■ Ein therapeutischer Schritt nach vorne: Werder gewinnt 2:0 gegen 1860 München / Die stets unzufriedenen Südkurven-Sitzer hätten das Ergebnis eigentlich nicht verdient
s war so ungefähr nach einem viertel Stündchen, als Stalteri kurz hinter der Mittellinie den Ball stoppte, quer zu Ernst legte, der vorne keine Lücke sah, zurück zu Verlaat schob, dem wiederum sofort zwei Münchner entgegenstürmten, woraufhin die Pille bei Rost landete, der sie ziemlich planlos nach vorne drosch – und die Südtribüne pfiff. Es war so ungefähr in Minute 26, als Ernst kurz auf Ailton passte, der sich zwischen drei Münchnern verhedderte und den Ball verlor – und die Südtribüne pfiff. Und als nach einer guten Stunde Eilts ins komplett mitspielerfreie Nirwana kickte – da pfiff die Südtribüne wieder.
Der Rest der Geschichte ist bekannt: Keine fünf Minuten später lochte Toni Ailton zum 1:0 ein, und wieder fünf Minuten danach staubte Pizarro zum 2:0 ab, das alte Torduo Pizza-Toni war wieder auferstanden, die Welt in Ordnung und auf den Rängen, alles oh-wie-wunderschön. Obwohl die dort eigentlich verloren hatten. Denn besiegt hatten die Bremer Kicker nicht allein die schwächelnden Münchner Löwen, sondern auch die eigene zahlende Kundschaft. Vor allem die, mit den dickeren Brieftaschen auf der Südtribüne.
Wir haben es ertragen Jahr um Jahr, nun muss es mal raus: Sie sind eklig, diese älteren Herren in ihren wattierten Polarmänteln. Wie sie in Kleinsthorden ihren Sitzplätzen zustreben, immer kurz vor Anpfiff, man hat ja reserviert. Wie sie sich an den anderen Sitzplatzfans grußlos vorbeirammeln. Wie sie diese mürrischen Gesichter herzeigen, als gäbe es Freibier für schlechte Laune. Und wie sie geradezu eruptiv und gerne auch vollkommen unabhängig vom Spielgeschehen die verbale Sau rauslassen.
Da spritzt der Geifer, dass man sich lieber nicht vorstellen möchte, wie es bei den Herrschaften daheim zugeht. Zum Beispiel, wenn der Aggressionsstau in der Sommerpause abgebaut werden muss. Gru-se-lig! Man vermutet den hässlichen Fan gemeinhin eher in den gleichnamigen Kurven – weit gefehlt. Gegen die Brüllaffen, Pöbelkönige, Aggressionsmonster und Schlechtelauneverbreiter im Sitzplatzbereich der Besserverdienenden ist jeder volltrunkene Gästetorwartbeschimpfer in der Ostkurve ein Ausbund an Etikette. Immerhin unterstützt der Kurvenfan den eigenen Club auch mal, wenn es gerade nicht so gut läuft. Was dem Edelfan nie im Leben einfallen würde. Der ist gemeinhin Schönwetterjubler. Ansonsten gilt Schweigen als Zustimmung. Die allerdings selten gewährt wird. Weil ja die Wut irgendwohin muss. Und die Kinder sind aus dem Haus und stehen von daher für Ohrfeigen nicht mehr zur Verfügung.
„Wenn Du auf der Bank sitzt, dann ist das kaum auszuhalten“, sagt so mancher lieber ungenannt bleibende Werder-Aktive. Was uns wiederum zur kühnen These verleitet, dass am fußballerischen Gekrepel des postottokratischen Zeitalters nicht unwesentlich diese Herrschaften schuld sind. Weil es doch alles andere als aufbauend ist, wenn der tribünenseitige Spiegel der ohnehin verunsicherten Fußballerseele das hässliche Bild des Vollversagers zurückwirft. Vielleicht, nur so als Experiment, sollte beim nächsten Heimspiel die Haupttribüne vor dem Anpfiff einfach komplett geräumt werden.
Ende der Publikumsbeschimpfung. Und Beginn einer schwachhoffenden Lobhudelei für die Truppe, die Thomas Schaaf am Samstag zum Kicken geschickt hat. Dass die 60er mit 2:0 abgefertigt wurden – nun gut: Der sportliche Teil der Geschichte ist schnell erzählt. Thomas Häßler konnte sich gegen Dieter Eilts nicht durchsetzen – und schon war das Münchner Spiel seines Hirns und seiner Seele beraubt. Kreativen Glanz konnten zwar auch die Grün-Weißen nicht verbreiten. Aber dafür immerhin Fortschritte im spielentscheidenden Körperteil: Zwischen den Ohren. Werder Bremen gegen 1860 München, das war auch ein Kampf der Bremer Spieler gegen den eigenen Frust. Eine am Ende erfolgreiche Therapiesitzung. Die Bremer Defensive strahlte endlich mal Stabilität aus. Im Mittelfeld zum Beispiel stellte Andreas Herzog – ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten – das Fußballspielen nach dem ersten Fehlpass nicht etwa ein, sondern biss sich durch. Ailton rackerte derart, dass er sogar den Stationärkicker Pizarro manches Mal mitriss. Die Wiederauferstehung von Pizza-Toni hat da durchaus Symbolwert.
Kurzum: Es stand eine Mannschaft auf dem Platz, die ihre Chancen erkämpfte, auf die Pfiffe pfiff und Selbstbewußtsein tankte. Was Hoffnung macht. Schwache Hoffnung, als Bremer ist man Kummer gewohnt. Aber immerhin. Am Samstag kommt der HSV.
Jochen Grabler
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