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: Jennifer Capriati holt den ersten großen Tennistitel

Sprung in die Gegenwart

Der Freudentanz bestand aus einer Folge kleiner Hüpfer, und die sahen aus, als gehörten sie noch zu ihrem ersten Leben. So wäre Jennifer Capriati wohl herumgetollt, hätte sie mit 15 oder 16 gewonnen; wie ein überraschtes, kleines Mädchen, das ein im Garten verstecktes Geschenk gefunden hat. Doch nun, da sie als entspannte junge Frau von 24 Jahren schließlich und endlich dort angekommen ist, wo man sie schon vor einer halben Ewigkeit erwartet hat, weiß sie um den wahren Wert dieses Geschenks.

Der 6:4, 6:3-Sieg bei den Australian Open in kaum mehr als einer Stunde gegen Martina Hingis, die Nummer eins der Welt, bestätigte die Erkenntnis der vergangenen Woche und die vagen Andeutungen des vergangenen Jahres. Früher, in der Jenny-Baby-Zeit ihrer Karriere, hieß es über Capriati, im entscheidenden Moment mache sie zu wenig aus sich und ihrem Spiel. Bei ihrem ersten Grand-Slam-Turnier mit 14 in Paris stand sie im Halbfinale, das gleiche schaffte sie gut ein Jahr später in Wimbledon und New York, doch weiter kam sie nie. Nur ein einziges Mal, 1992 bei den Olympischen Spielen in Barcelona ging sie den ganzen Weg, besiegte Steffi Graf in einem denkwürdigen Endspiel. Doch in jenem Jahr war schon zu erkennen, dass die Geschichte mit dem Kinderstar nicht einfach so weitergehen würde. Sie hatte genug davon, jedermanns Liebling zu sein; sie rannte weg vom Tennis, von den Eltern, von den Zwängen und vom ganzen verdammten Geld.

Aber das ist lange her. „Die Vergangenheit spielt keine Rolle mehr“, hat Jennifer Capritai auch in diesen zwei Wochen immer wieder gesagt, „es kommt nur noch auf Gegenwart und Zukunft an.“ Im Spiel gegen Monica Seles zeigte Capriati, dass sie zu Hause genug gearbeitet hat, um jeden Ausdauertest zu bestehen; gegen Lindsay Davenport bewies sie, dass sie in großen Spielen endlich an sich glaubt. Und im Spiel gegen Hingis wirkte sie vom ersten Punkt bis zum letzten Rückhand-Schuss die Linie entlang derart entschlossen und dominant, dass die 15.000 Zuschauer in der Rod Laver Arena manchmal dachten, das könne nicht sein. Martina Hingis aber hatte nicht mehr die geistige Stärke, um jeden Punkt so zu kämpfen, wie sie es zuvor gegen Serena und Venus Williams getan hatte.

Immer wieder in den vergangenen drei Wochen, zuerst beim Turnier in Sydney, danach in Melbourne, war sie den Schwestern in Einzel und Doppel begegnet, und am Ende, sagt sie, sei es einfach ein Spiel zu viel gewesen. Ob sie sich die zusätzliche Belastung im Doppel in Zukunft noch antun wolle, müsse sie sich sehr gut überlegen. Und wie kommt sie damit klar, seit Januar 1999 keinen Grand-Slam-Titel mehr gewonnen zu haben? „Es gibt schlimmere Katastrophen im Leben als das, was mir heute passiert ist.“

Hingis bleibt die Nummer eins der Welt; daran ändert sich nichts. Jennifer Capriati aber gehört ab heute zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder zu den Top Ten (7). Besser als Nummer sechs ist sie auch im ersten Teil ihrer Karriere nie gewesen, und wenn sie so weiterspielt, dann ist es nur eine Frage kurzer Zeit, dass sie auch diesen Ballast aus ferner Zeit abwirft und steigt in ihrem Ballon.

In der Stunde des Sieges und noch lange danach war sie eins mit sich und der Welt. Jennifer Capriati hat viele Jahre gebraucht, um herauszufinden, wer sie ist, was sie will und vor allem, was nicht. Nachdem sie sich den größten Pokal ihres Lebens geschenkt hat, sagt sie nun: „Ich werde nie wieder daran zweifeln, dass ich etwas kann. Wenn ich mit einem solchen Titel nach Hause fahren kann, dann weiß ich sicher, dass alles möglich ist.“ Mit 15 wären die Hüpfer vielleicht die gleichen gewesen, der Rest aber hätte nie so gut, so echt, so überzeugend sein können. Besseres lässt sich kaum sagen.

DORIS HENKEL