Spuren von Absichten

Zu Besuch bei einem Semiotiker

von GABRIELE GOETTLE

Roland Posner, ordentl. Prof. f. Germanist. u. allg. Linguistik. Leiter d. Arbeitsstelle f. Semiotik a. d. Techn. Univ. Berlin. Diss. 1972 („Theorie d. Kommentierens. Eine Grundlagenstudie z. Semantik u. Pragmatik“), Habil. 1973, f. d. Fachgebiete Linguistik, allgem. Literaturwiss. u. Sprachphilosophie. Berufung z. ordentl. Prof. 1974, auf d. Lehrstuhl f. Linguistik u. Semiotik an d. TU Berlin. Gründungspräsident d. Deutschen Gesellschaft f. Semiotik 1976. Verf. div. Bücher, u. a.: „Rational Discourse and Poetic Communication-Methods of Linguistic, Literary and Philosophical Analysis“, 1982. Gründer u. Hg. d. Zeitschrift f. Semiotik (1979 –), Mitherausg. u.a. von: „Semiotik – Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur– (I-III, 1997–). Organisator d. 1. Internalen Kongresses d. Deutschen Semiotischen Gesellschaft (1975). Präsident d. International Association for Semiotic Studies, IASS (1994–). Roland Posner wurde 1942 in Prag geboren, ist verheiratet u. hat 3 erw. Kinder.

Die semiotische Fragestellung, erläutert ein Faltblatt der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, sei älter als alle wissenschaftlichen Einzeldisziplinen und dazu geeignet, deren Selbstisolierung zu überwinden und deren Spezialisierung teilweise aufzuheben. Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen. Sie beschäftigt sich mit allen Prozessen des Informationsaustausches als Prozessen, an denen Zeichen beteiligt sind. Menschen sprechen, schreiben, zwinkern, winken, verkleiden sich, sie stellen Wegweiser auf und Barrikaden, um anderen etwas mitzuteilen. Die Semiotik untersucht alle Zeichenprozesse im Hinblick auf gemeinsame Strukturen, und damit geht ihr Untersuchungsbereich weit über die Erforschung kultureller Phänomene hinaus. Er umfasst die Interaktion von Tieren, die Orientierungs- und Wahrnehmungsweisen aller Lebewesen, die Reiz- und Reaktionsprozesse von Tieren und Pflanzen ebenso wie den Stoffwechsel der Organismen oder die Informationsverarbeitung von Maschinen. Der moderne Semiotiker beschäftigt sich im Prinzip mit drei Hauptaufgaben: Mit dem Zeichenverkehr zwischen Menschen im Allgemeinen, mit der beschreibenden Semiotik, welche die im Umlauf befindlichen Zeichen erforscht, und schließlich mit der angewandten Semiotik, mit der das Wissen über die Zeichen für verschiedene Zwecke nutzbar gemacht wird. Insofern versteht sich der Semiotiker weniger als Vertreter einer Wissenschaft unter vielen anderen Wissenschaften, sondern vielmehr als kompetenter Experte für ein Instrument aller Wissenschaften.

Herr Professor Posner wohnt seit kurzem in Berlin-Mitte. Er zog vom Westen in den Osten, vom vergleichsweise beschaulichen Südwestkorso in Friedenau in einen Plattenbaukomplex an der achtspurigen Leipziger Straße. 1945 lag fast die gesamte Leipziger Straße in Trümmern, von den ehemaligen Prachtbauten, Kaufhäusern, Luxusgeschäften und Cafés blieb nichts übrig. Erst 1969 begann man mit dem systematischen Aufbau einer DDR-typischen Wohn- und Einkaufsmeile. Auf der Südseite der Straße überwiegen 22- bis 25-geschossige Hochhäuser für Wohnzwecke und dazwischengeklemmte Flachbauten für Handel, Gewerbe, Gastronomie. Einige Geschäftslokale stehen leer. Auf der Nordseite ziehen sich zusammenhängende 12- bis 13-geschossige Wohnanlagen hin. Hier residiert Herr Posner nun, in einer Eckwohnung, ganz oben.

Er empfängt uns als stolzer Hausherr. Die Wohnung, so erfahren wir, war zu DDR-Zeiten eine so genannte Funktionärswohnung. Sie diente als Domizil des indischen Gesandten. Die Räume sind zahlreich, aber recht niedrig, so dass der Lüster, der in Friedenau vermutlich elegant von der großbürgerlich hohen Decke herabhing, hier fast auf der Schulter zu schleifen droht. Auch das übrige Mobiliar, teils altmodisch, teils modern, scheint sich breiter zu machen, als es ist. Es dominieren auf den zweiten Blick überall genau eingepasste Bücherregale, viele sind noch leer. Ihr zukünftiger Inhalt türmt sich in zahlreichen Kartons, die ein ganzes großes Zimmer ausfüllen. Im Flur hängt eine Fotomontage der Malerin Sarah Schumann aus den frühen 60ern, sie zeigt ein Frauengesicht in einer Baugrube. Herr Posner besitzt das Bild seit mehr als zwanzig Jahren. Auch er selbst hat künstlerische Leidenschaften, denen er, soweit es die Zeit erlaubt, nachgeht. Seine Fotografien haben es bis hin zu Ausstellungen in Amerika, Schweden und Bulgarien gebracht. Herr Professor Posner liebt den Blick auf Zeichen und Muster, die Zivilisation und Technik bilden, auf die Struktur – den Blick von oben. Freundlich, aber entschieden werden wir zu den diversen Fenstern und auf den Balkon geführt. Der Anblick ist überraschend schön. Unten durch die Leipziger Straße gleitet die unaufhörliche Lichterkette der vorbeifahrenden Autos durch die Abenddämmerung, in den Fenstern der emmentalerartigen Hochhäuser spiegelt sich das Scharlachrot der untergehenden Sonne. Man sieht die lichtergeschmückten Kräne im Südwesten und im Norden die angestrahlten barocken Kuppeltürme des Deutschen Doms und des Französischen Doms, auf denen sich, golden schimmernd und imposant, die Allegorien der „Siegenden Tugend“ und der „Siegenden Religion“ in den dunklen Himmel recken.

Im Arbeitszimmer schließlich, das nach Norden liegt, nehmen wir an einem runden Holztisch Platz und trinken interessanten, nach Zimtrinde schmeckenden Tee. Hier sind die Regale bereits eingeräumt, der Schreibtisch in Betrieb. Alles scheint an seinem Platz: der Deckenfluter, die Bronzebüste unseres Gastgebers im Alter von 34 Jahren, und sechs prall gefüllte, mysteriöse Aktentaschen auf die ich fragend zeige. „Für jedes Seminar eine“, erklärt Herr Professor Posner.

„Und dann haben wir ja noch verschiedene Forschungsprojekte“, berichtet unser Gastgeber mit fester Stimme. „Zu den Projekten, die wir in den letzten zehn Jahren gemacht haben, gehört beispielsweise die Gestenforschung, dann die Forschungen zum Kontext der Computernutzung wie . . . Kognition und Kontext. Und jetzt fangen wir ein neues an, das heißt: Kooperation unter Risiko in sozio-technischen Systemen. Da werden Operationsteams in Krankenhäusern begleitet von uns, und wir beobachten, wie sie miteinander kommunizieren – vor allem nonverbal. Wir haben die Charité als Hauptpartner, und die Ärzte sind natürlich sehr dankbar, dass wir das machen. Wir haben erst mal ein Team, das fotografiert das Ärzteteam beim Operieren. Der Leiter des Gesamtprojektes ist ein Anästhesist. Was der uns erzählt, ist haarsträubend. Missverständnisse noch und noch! Die Routine ist ja meist in Ordnung, aber bei kritischen Situationen gibt es Probleme. Wir versuchen also, kritische Situationen von Routinesituationen zu trennen. Die kritischen Situationen werden dann daraufhin untersucht, ob die Ärzte, wenn sie merken, es muss jetzt ganz schnell gehen, oder es hat einer einen Riesenfehler gemacht, vernünftig reagieren. Ein ganz typischer Fall ist, dass sie dann übereilt irgendeine intuitive Lösung durchziehen. Aber meist, bei so komplexen Sachen, ist es besser, wenn die eine Checkliste hätten und der Reihe nach gucken, wo könnte was schief gelaufen sein und dann zwei, drei Instruktionen vorschlagen, wie sie das ausgleichen können, das existiert aber meistens nicht. Und dann geht es um die Computerisierung, um die Grade der Selbstständigkeit von Maschinen, die in Zukunft ja als selbstständige Partner eingesetzt werden.

Bei den Operationsteams – um bei diesem Beispiel zu bleiben – wird es eines Tages vielleicht, sagen wir fünf, sechs Messgeräte geben, das sind Instrumente, und dann gibt es vielleicht einen ,Partner‘, das ist ein enorm komplexes Gerät, das von den Mitgliedern des Teams als ein weiteres Teammitglied auch akzeptiert wird. Und die Kommunikation dieses Teammitgliedes mit dem übrigen Team müsste so fein sein, so differenziert wie zwischen Menschen. Also das ist eine wirklich enorme Herausforderung, das dauert vielleicht noch ein Jahrhundert, bis es soweit ist . . . Zwei Sorten von Maschinen, grob gesagt, und schon heute müssen wir fragen, welche Maschinen sollen als selbstständige Partner im Operationsteam sein, und welche sind bloß Messgeräte?! Also von der Sorte ist Grundlegendes zu untersuchen und zu entscheiden, und wir haben da neben der Semiotik diese Zeichenprozesstypen aufgezeichnet und analysiert . . . die Arbeitswissenschaftler und die Psychologen und Gruppenpsychologen . . . die sind zusammen fünf Leute und fünf Fachgebiete. Wir werden jetzt erst mal die Methoden erarbeiten, mit Hilfe derer dann, vom vierten Jahr an, die Fragen systematisch weiter erforscht werden können. Wir nennen das ein Erhebungsinstrument für Teams, die mit kritischen Situationen arbeiten. Und das machen wir eben am Beispiel der Operationssäle, wo unter Zeitdruck und mit Sicherheitsrisiko gearbeitet werden muss. Also, das ist nicht gerade unser momentaner Schwerpunkt, das wäre zu viel gesagt, das ist ein Projekt, eins, über das wir sehr glücklich sind . . . wir haben aber, wie gesagt, parallele andere Projekte und auch deren Fragestellung geht natürlich weiter.“

Herr Professor Posner ändert seine Sitzhaltung, nimmt eine mehr zugewandte Position ein, stützt die Hände über der Lehne auf und ordnet das Flechtwerk seiner Finger neu. Dann fährt er fort: „Also jede unserer Wissenschaften braucht in Zukunft diese Art von Integration in den menschlichen Alltag oder Arbeitsalltag – der ja schon von vornherein mitgedacht werden muss –, und da spielt die Informatik die Hauptrolle, die Expertensysteme, die gemacht werden, das sind alles unsere Fragestellungen. Und ich versuche da immer so was Gemeinsames zu sagen . . . das ist schon die Kulturtheorie, die semiotische Kulturtheorie oder der Versuch, Zeichen, Zeichentypen und Prozesse der Zeichenverarbeitung in allem zu sehen, was kulturell ist, und auf dieser Grundlage dann Kultur zu erfassen, das klingt jetzt sehr abstrakt . . . also das ist vorwiegend Alltagskultur, um die es hier geht . . . Ich würde sagen, wir bemühen uns auch, dass wir unsere Begriffe zwar präzise, aber genau im Rahmen des Gängigen halten. Das ist eine wichtige Aufgabe, auch für Techniker. Also ich würde unter Kultur – jetzt referiere ich nur ganz kurz – drei Ebenen, drei Aspekte wichtig finden: Kultur ist immer eine Gruppe von Menschen oder höheren Organismen – kann auch vonTieren oder von Computern in Zukunft sein. Gut, eine Gruppe von Partnern eben, in irgendeinem Sinn – ob die gleichberechtigt sind oder nicht, ist dann wieder kulturspezifisch –, und die haben nun mal, weil sie höhere Lebewesen sind, die Fähigkeit, irgendwelche Sachen zu produzieren, Artefakte nennen wir das, die denen das Leben erleichtern. Diese Gruppe nenne ich meistens Gesellschaft. Die Artefakte nenne ich Zivilisation, das hat mit Technik zu tun, aber zu den Artefakten zähle ich nicht nur Maschinen, sondern auch Stühle, beliebige handwerkliche Erzeugnisse und eben auch Texte, also die so genannten ganz abstrakten Dinge. Wenn Sie also jetzt diese beiden Ebenen haben, Gesellschaft und Zivilisation, dann brauchen Sie eine weitere Ebene, die erklärt, warum genau diese Artefakte produziert werden, warum einer die kaufen oder eben . . . machen will und wie er das beherrscht, benutzt usw., und das nenne ich Mentalität, die dritte Ebene. Und das ist für mich ein zentraler Punkt für die Semiotik. Mentalität ist nichts anderes als die Zeichensysteme, die die Individuen, die gesamte Gesellschaft beherrschen müssen, damit sie mit ihrer Zivilisation umgehen können.

Es gibt natürlich Artefakte, mit denen können Sie, ohne viel zu wissen, mühelos umgehen. Bei hoch entwickelten Maschinen, da müssen Sie aber viel wissen, sonst können Sie mit dem Gerät überhaupt nicht umgehen, angefangen beim Videorecorder, der meist auch noch vom Werk idiotisch codiert ist. Es sollte aber möglichst übersichtlich und verständlich sein, ich mach es so und so, und dann funktioniert das Ding, wie ich es will, und das ist ein direkter Gegenstand der Kultursemiotik, weil Sie die verschiedenen Zeichentypen und Zeichenprozess-Sorten dann genau beschreiben können. Denn wenn wir weiter so fortfahren, wie die meisten Industrieunternehmen gegenwärtig – Beispiel Videorecorder –, jede einzelne Funktion noch mal zu etikettieren, dann weiß bald niemand mehr, was das alles bedeutet. Der Grad der Komplexität und Komplizierung durch Zusatzzeichen, der ist in den letzten 150 Jahren enorm gewachsen. Bis zu einem Punkt, dass wir uns nicht mehr wohl fühlen – weil wir nicht mehr durchblicken. Also ich wollte noch mal zurückführen zu einer Sache, die mir, einfach wegen ihrer Allgemeinheit, wichtig ist: Die Dinge, die Menschen machen, also die wir Artefakte nennen, denen kann man ansehen, bis zu einem gewissen Grade, warum sie gemacht worden sind, für welchen Zweck. Und wenn wir den Zweck mit Intentionalität übersetzen, dann kann man sagen, dass die Dinge Intentionalität haben – natürlich! –, als von Menschen gemachte. Man kann das noch erweitern, selbst wenn sie nicht von Menschen gemacht sind, werden sie von Menschen so angesehen, als hätte sie jemand machen können, der liebe Gott oder sonst wer. Das heißt, wenn Sie beispielsweise durch den Wald gehen, unterstellen Sie den Dingen, die Sie da sehen – es sind ja nicht nur Dinge, also diesen Konfigurationen –, bestimmte Verwendungszwecke. Und das ist für mich das Zentrale an Kultur, dass wir, egal ob wir ein Haus, ein Auto, eine Straße, ein Straßenbild . . . oder eben auch einen anderen Menschen sehen, denken: Wer, wofür, wozu, oder was kann ich damit anfangen? Das ist der Punkt, dass wir Zeichenprozesse mit Hilfe ganz weniger Begriffe, die dann sehr komplex behandelt werden, erklären, erläutern, explizieren können, und einer dieser Begriffe ist eben der Wille, die Absicht oder die Intention, der Wunsch, was Sie wollen. Ein anderer dieser Begriffe ist die Annahme, der Glaube oder wie Sie das nennen wollen . . . Unterstellungen, Voraussetzungen. Und wenn Sie dann . . . also sagen wir . . . der eine glaubt, dass der andere will, dass der eine das und das tut . . . Dann brauchen Sie noch das Tun.

Mit diesen drei Begriffen habe ich da die ganzen klassischen Zeichentypen rekonstruiert. Und ich bin stolz, denn diese Systematisierung hat sonst niemand gemacht, und damit kann ich bestimmte Sachen beweisen. Ich kann beweisen, dass es nur fünf Arten von sprachlichen Äußerungen geben kann! Alle anderen müssen Spezialisierungen dieser fünf sein. Und in der Sprechakttheorie gab’s zufällig auch fünf, also habe ich denen bewiesen, wieso sie zu Recht fünf angenommen haben – einige davon haben sie falsch klassifiziert. Aber solche Sachen sind schon sehr speziell, dann wird’s wissenschaftlich und theoretisch, notwendigerweise. Damit man einen Fortschritt kriegt, auch für den Bau von Maschinen, Computern, die Partner werden können vom Menschen – das muss ja alles durchschaut werden! Also in der Richtung ist der Kern der von mir für faszinierend gehaltenen Sachen. Gegenstände als Spuren von Absicht. Das ist selbstverständlich auch kulturenübergreifend, das heißt, Sie können damit jede beliebige Kultur analysieren. Und wenn Sie damit jede beliebige Kultur analysieren, werden Sie kulturspezifische Unterschiede feststellen, das heißt, Sie können vergleichen. Also, welche Artefakte benutzen die Leute im Sudan, welche in Australien, Kalifornien, Japan. Nur ein Beispiel: Als die weißen Eroberer, oder wie immer Sie die nennen, in Kalifornien ankamen 1768, haben sie 3.500 Geräte gezählt, die die Indianer dort benutzt haben. In Australien, 1770, haben die Anthropologen 24 gezählt. Also die Aborigines hatten nicht mehr als 24. Die Indianer in Kalifornien 3.500. Als die amerikanische Armee in Nordafrika gelandet ist, im Zweiten Weltkrieg, hatten die eine Liste der ‚Items‘, die sie transportieren mussten, und das waren 500.000!! Und das ist also mehr, als wir Wörter in einer normalen Sprache haben. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, wir haben ein vielfaches dieser Artefakte in unseren westlichen Kulturen heute. Die alle zu benennen, ist nicht nur idiotisch, das kann auch keine Sprache mehr. Also: Wir leben in einem Kontext von Artefakten, das ist eben die Hauptthese, und die Kultursemiotik muss diese Artefakte in Bezug auf den Menschen analysieren. Und wenn sie das tut, mit gleichen Begriffen für alle Kulturen, dann kriegen Sie enorm interessante Sachen raus über die Unterschiede der Kulturen.

Ja, ja . . . das ist verführerisch einfach, zunächst. Auf den Gedanken sind eben andere Leute noch nicht gekommen, weil wir so überspezialisiert sind. Also da gibt’s die Linguisten, da gibt’s die Kommunikationswissenschaftler, die Medienwissenschaftler, die Anthropologen, da gibt’s alle Möglichen. Aber die wissen nicht, dass sie alle mehr oder weniger dasselbe machen. Und das versuchen die Semiotiker denen zu zeigen. Vielfach aber wollen die das gar nicht wissen, weil dann würde ihr Beruf vielleicht nicht mehr ganz so spezialisiert wahrgenommen werden. Dabei ist es doch so, wenn sie das wissen würden und wahrnehmen, ernstnehmen würden, dann könnten die ihre Spezialisierung besser einsetzen, viel besser, wenn sie nämlich miteinander kompatibel arbeiten. Und das gilt natürlich auch für alle anderen Bereiche.“

Elisabeth macht ihr letztes Foto von Herrn Posner, packt die Kamera ein und sagt in die entstandene Pause hinein: „Mich würde interessieren, wie sich das auf ihre Selbstwahrnehmung auswirkt, ihre Spezialisierung . . . ist das förderlich oder eher hinderlich?“ Unser Gastgeber faltet die Hände etwas lockerer als zuvor und sagt: „Man kann nicht sagen, ob’s förderlich oder hinderlich ist, man kann aber sagen, dass die Selbstwahrnehmung verändert wird. Mir ist es zum ersten Mal aufgefallen, dass ich diese „deformation professionelle“ habe oder kriege, als ich meine Staatsexamensarbeit geschrieben habe, das war über Interpretieren. Also mir ist das damals zum Halse rausgekommen, wie da geschwafelt wurde. Nun habe ich eine Arbeit gemacht über Interpretationstheorie, die aber tatsächlich eine über Interpretationspraxis war. Ich habe ein Goethegedicht genommen, das 200 Jahre alt war, und 100 Interpretationen. Die habe ich miteinander verglichen und teilweise angeprangert. Dabei hatte ich drei oder vier Stichwörter, die ich immer gesucht habe, das war: Interpretation, Verstehen, Paraphrase. Und immer wenn ich eines davon sah, war ich wie elektrisiert . . . das heißt, mir wurde klar, ich sehe die Welt durch diese Brille. Und mit diesem dabei gewonnenen Hintergrundwissen habe ich dann auch die strukturalistische literarische Interpretation angeschaut und eine Rezeptionsanalyse am Beispiel von Baudelaires ,Les chats‘ gemacht, 1968 . . . Ich gehöre ja zu der Generation, die in den 60ern meinte, so wie die ältere Generation es gemacht hat, geht es nicht mehr. Aber ich habe eben nicht Revolution gemacht, ich habe Handwerk gemacht!“ Herr Professor Posner lacht sonor.

Abschließend möchten wir noch etwas über das Projekt „Warnungen an die ferne Zukunft – Atommüll als Kommunikationsproblem“ erfahren, mit dem sich Herr Professor Posner 1984 ausführlich in der Zeitschrift für Semiotik und weiterhin bis Anfang der 90er-Jahre befasst hat. Das Thema ist ja unerbittlich aktuell. Die Menge der hochradioaktiven Abfälle, allein aus konventionellen Atomreaktoren wird ständig größer, ebenso die aus dem militärischen Bereich. Dazu kommen Unmengen kontaminierter Teile, auch aus Industrie, AKWs und Krankenhäusern. Immer größer werden damit auch die Probleme, immer wahrscheinlicher wird eine baldige Entsorgung und Versiegelung in so genannten Endlagern. Damals machte die Zeitschrift eine Umfrage: „Wie ist es möglich, unsere Nachkommen innerhalb der nächsten 10.000 Jahre über die Lagerungsorte und die besonderen Gefahren von Atommüll zu informieren?“ Es wurde um Stellungnahmen und Szenarien zu fünf Punkten gebeten, um Vorschläge, ob und mit welchen Mitteln Menschen über einen derart langen Zeitraum vom Eindringen abgehalten und vor den Gefahren gewarnt werden könnten. Es ging um Zeichen und Zeichenprozesse zwischen räumlich und zeitlich weit voneinander entfernten Menschen. Autoren und Wissenschaftler aus sieben Ländern (westlichen und auch aus sozialistischen) schickten ihre Beiträge. (ZS. f. Semiotik, Bd. 6, Heft 3, 1984).

Herr Posner erzählt: „Der Hintergrund dieser Umfrage ist kurz umrissen folgender. Damals hatten ja nur die Bundesrepublik Deutschland und auch die skandinavischen Länder, glaube ich, gemeint, sie könnten ein Endlager anstreben, das beaufsichtigt bliebe. Die Amerikaner haben ihr Zeug zum Beispiel in den Ozean geschmissen, vor der Küste Kaliforniens, doch dann haben sie doch kalte Füße gekriegt. Die Bechtel-Corporation – die zufällig mit dem damaligen Außenminister verbandelt war, weil der Manager von denen gewesen ist –, wurde gebeten, einen Expertenstab aufzubauen, der diese Frage systematisch beantwortet. Und dieser Expertenstab hat dann die Frage an Wissenschaftler weitergegeben und eben auch an Semiotiker. So bin ich an dieses Thema herangekommen, und wir haben dann eben diese Frage verallgemeinert und anderen Leuten gestellt. Das Problem ist ja, wir haben es mit sehr langen Zeiträumen zu tun bei dieser Frage. Einmal üblich gewordene Rituale verwandeln sich bereits innerhalb von Jahrhunderten bis zur Unkenntlichkeit. Mündlich Überliefertes geht verloren. Namen von Gegenständen und Lebewesen sind starken kulturellen Erosionen ausgesetzt. Es wird geschätzt, dass selbst bei gesellschaftlicher Kontinuität nach 10.000 Jahren nur noch 12 Prozent des heutigen Grundwortschatzes einer Sprache vorhanden sein werden. 2.000 Jahre sind ja schon sehr viel, im Rückblick, und wenn wir von den Mythen ausgehen, den germanischen oder denen der Inder, dann sind es 4.000 oder 5.000 Jahre. Und wenn wir dann von den Redewendungen ausgehen, die in der Sprache überlebt haben, dann sind’s bis zu 10.000 Jahre, vielleicht 12.000. Wir wissen, dass es in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften bis heute keine staatliche oder religiöse Institution gegeben hat, die mehr als ein paar tausend Jahre lang kontinuierlichen Bestand hatte. Hier liegt die eigentliche Herausforderung.

Die Umfrage wurde von den Leuten unterschiedlich beantwortet, aber sie haben übereinstimmend gesagt, ja, wir müssen die Zeichen in einer ganz bestimmten Art und Weise machen, es muss ein Kontext hergestellt werden, und zwar auf unterschiedliche Weise. Entweder man manipuliert, man streut Gerüchte aus, die das Ganze geheimnisvoll und Angst erregend machen, oder man kann versuchen, den Kontext Rationalität kontrollierbar zu machen. Man kann Mythen und Symbole bilden, damit sich das kristallisiert. Oder mit biologischen Mitteln arbeiten, wie Lem mit seinen „Atomblumen“ und Bastide & Fabri mit ihren „Atomkatzen“. Und auch physikalische Lösungsvorschläge gab es, künstlicher Mond am Himmel und Datenbank im Keller, Roboter mit speziellen Sensoren bei Lem. Und es gab natürlich Vorschläge zur kulturellen Option, und man versuchte sich Maßnahmen einfallen zu lassen, die dem Codewandel entgegenwirken oder ihn ausgleichen könnten, also verschiedene Sorten von Warntafeln, weithin sichtbare Monumente usw., aber man kam dann schnell auch zu dem Schluss, es muss eine gesellschaftliche Institution geben, die sich bis in die ferne Zukunft mit diesem Problem befasst, mit dem Atommüllproblem. Kontinuierlich ist das Hauptgewicht dabei. Sebeok beispielsweise ging aus von der historischen Erfahrung, dass eine sich selbst verwaltende religiöse Institution zusammen mit kontinuierlich weitertradierten Mythen und regelmäßig zu vollziehenden Riten und überall präsenten Symbolen die größte Überlebenschance hat. Er stellt sich so eine Art Atompriesterschaft vor, ein Gremium von Experten, das sich nach Art der Kardinalskollegien regelmäßig durch Neuernennungen selbst regeneriert. Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, die Warnungen an die ferne Zukunft über die Zeit hinweg vor Verlust oder Vergessen zu bewahren und alle relevanten neuen Zeichensysteme zu autorisieren. Es war aber allen und auch ihm selbst bewusst, dass diese Art von Lösung bestimmte Gefahren mit sich bringt, Elitebildung, Machtmissbrauch usw. Allmählich wurde mir klar, dass es eine andere Lösung geben muss. In der Menschheitsgeschichte ist die Kapazität für institutionelles Gedächtnis ja gewachsen. Und wenn das so ist, dann müsste man eben ein solches Gedächtnis und Gewissen schaffen, das weitgehend staatsunabhängig und weitgehend selbst regenerierend ist – und das trotzdem keine Gefahr werden kann wie die ‚Atompriesterschaft‘. Also unabhängig ist wichtig, wir haben ja die verschiedenen Arten von weltweiten Systemen, wir haben die multinationalen Konzerne beispielsweise, wir haben die Religionsbewegungen und andere global arbeitende gesellschaftliche Institutionen, und das wäre auch eine solche . . . so könnte die Idee überleben, das Wissen. In einer demokratischen Organisation eines kollektiven Gewissens über Jahrtausende. Anfangen muss man auf nationaler Ebene. Mit der Einrichtung eines Dreikammersystems, in dem die Macht des zentralen Parlamentes – in Deutschland ist das der Bundestag – nicht nur allein durch eine zweite Kammer, den Bundesrat, beschränkt wird, sondern durch eine dritte Kammer ergänzt wird, deren Rechte und Pflichten analog denen der zweiten Kammer zu formulieren sind. Das ist der Zukunftsrat. Er ist unauflösbar. Kann sich aber auf eigenen Beschluss mit dem Zukunftsrat anderer Staaten vereinigen.

Ich habe das sowohl an verschiedene Institutionen in Bonn als auch in Brüssel, als auch an die UNO verschickt. Die Reaktionen waren mehr oder weniger gleich null. Ich würde sagen, in 60 Prozent der Fälle bekam ich keine Antwort und in den verbleibenden 40 Prozent höfliche, nichts sagende Antworten.“