Die große Wanderung

Klaus J. Bade liefert mit seinem hervorragenden neuen Buch das historische Fundament für das wichtigste Reformprojekt der rot-grünen Regierung: das Einwanderungsgesetz

von EBERHARD SEIDEL

Das vereinte Deutschland erlebte 1991 und 1992 seine erste große politische Legitimationskrise. Bürger belagerten vielerorts die überfüllten Flüchtlingswohnheime, die Zahl rassistischer Attacken explodierte. Und die Polizei wusste so manches Mal nicht, ob sie für die Bedrängten oder doch lieber für die Wütenden Partei ergreifen sollte. Angesichts des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen sprach Bundeskanzler Helmut Kohl im Herbst 1992 bereits von einem „Staatsnotstand“. In „Not“ waren nach seiner Auffassung allerdings nicht die Flüchtlinge, sondern die Kommunen, die drohten von den Migrationsströmen ins Elend gerissen zu werden.

Der Staatsnotstand war hausgemacht. Denn entgegen aller Realitäten hielt die Regierung aus Union und FDP seit Amtsantritt 1982/1983 an der Doktrin fest: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Diese wirklichkeitsferne und ahistorische Sicht mündete nach dem Fall der Mauer zwangsläufig in eine politische Krise. Jetzt wanderten jährlich rund eine Million Menschen nach Deutschland ein, darunter mehr als 400.000 Flüchtlinge. Und jeder Bürger erlebte alltäglich in seiner Nachbarschaft, dass die Wirklichkeit den politischen Behauptungen widersprach. Die Folge: Unten wuchs die Angst vor den Fremden, oben wuchs die Angst der Regierenden vor den Wählern. Teile der politischen Klasse und der Bevölkerung suchten mit einem rassistisch konnotierten Diskurs einen Ausweg aus dem Dilemma. Seit dieser Zeit sind mehr als 100 Menschen an den Folgen des rassistischen Terrors gestorben.

Aber nicht nur das konservative Lager trägt Verantwortung für die Entwicklungen der Vergangenheit. Die politische Linke und die Liberalen haben sich ebenfalls die eine oder andere unangenehme Frage zu stellen. Allzu häufig wurde das Thema Einwanderung auch von ihnen und von außerparlamentarischen Protestbewegungen instrumentalisiert und skandalisiert. Auf der Strecke blieb eine dem Problem angemessene rationale Auseinandersetzung über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Wanderungsbewegungen; welche Spielarten von Migration es gibt, und wie eine verantwortungsvolle Politik, die zwischen den Interessen von Neuankömmlingen, Schutzsuchenden und Alteingesessenen abzuwägen hat, aussehen könnte.

All die genannten Defizite finden auch in der Wissenschaft ihre Entsprechung. Zwar gibt es eine Flut von pädagogisierenden, psychologisierenden und historisierenden Publikationen, die sich mit den hochkomplexen Problemen und Defiziten diverser Ausländergruppen auseinandersetzen. Es fehlt dagegen eine historische Erzählung, die eine Geschichte der Wanderungen als deutsche, europäische oder eben auch als Weltgeschichte beschreibt. Sie ist überfällig, da eine solche Geschichtsschreibung mit dazu beitragen könnte, unser aller Wahrnehmung des Geschehens neu zu justieren. Sie könnte uns lehren, dass Migration keine singuläre Erscheinung unserer Zeit ist und es in der Vergangenheit durchaus politische Konzepte der Aufnahme und der Integration gegeben hat, die die aktuelle Debatte befruchten könnten.

Klaus J. Bade, Professor und Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück, ist einer der wenigen, der seit längerem an einer Geschichte der Wanderungsbewegungen arbeitet. Von ihm stammt zum Beispiel das Standardwerk „Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland“ (1992). Nun liegt von ihm die auch für den Laien gut lesbare und faktenreiche Abhandlung „Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ vor. Das Buch bietet eine epochen-, formen- und länderübergreifende Darstellung des Wanderungsgeschehens in, aus und nach Europa. Einen Schwerpunkt legt er auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und der aktuellen Probleme am Ende des 20. Jahrhunderts.

Neben der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte der Migration widmet sich Bade auch ausführlich den politikgeschichtlichen Aspekten. Seine These: Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, das von proletarischen Massenwanderungen und einer bis heute in diesem Maße nicht mehr erlebten Freiheit der Wanderung über Grenzen hinweg bestimmt war, hat sich die Situation im 20. Jahrhundert grundlegend verändert. In diesem so genannten Jahrhundert der Flüchtlinge und heimatlosen Menschen werden die Wanderungsbewegungen im europäischen Raum in einem bis dahin unbekanntem Maße durch politische Entwicklungen und Rahmenbedingungen ausgelöst beziehungsweise erzwungen und zugleich reglementiert und begrenzt.

Die Bundesrepublik ist nicht der Nabel der Welt, so könnte ein Fazit des Werkes lauten. Weder schultert sie die Hauptlast der weltweiten Wanderungsbewegungen – das tut die „Dritte Welt“, allen voran Afrika. Noch sind kulturalistische Fremdheitszuschreibungen und Exklusionsvorstellungen mit rassistischen Konnotationen auf die deutsche Debatte beschänkt. In dieser Hinsicht haben auch Großbritannien und Frankreich eine Menge zu bieten.

Bade verweist allerdings mit Nachdruck darauf, dass Deutschland zwar bis 1992/93 im europäischen Verleich das liberalste Asylrecht hatte, aber gleichzeitig auch die restriktivste Asylrechtspraxis. Seit der restriktiven Reform von 1993 nötigt Deutschland die anderen europäischen Staaten ihrerseits zu einer restriktiven Anpassung, um das Ausweichen von Asylsuchenden auf deren Territorien zu begrenzen. Trotzdem ist die Rede von der Festung Europa problematisch. Bade hält sie für richtig und falsch zugleich. Sie ist falsch, weil Europa nach seiner Beobachtung bislang offen blieb für viele auf nationaler Ebene erwünschter und aufgrund universalistischer Pinzipien tolerierter Zuwanderer. Gleichzeitig hat Europa für Zuwanderungen aus der „Dritten Welt“ nur noch wenige Zugänge offen gelassen.

„Europa in Bewegung“ ist das Begleitbuch zu dem derzeit wichtigsten Reformprojekt der rot-grünen Regierung, der Vorbereitung eines Einwanderungsgesetzes. Wichtig ist es deshalb, da es die Wahrnehmung der Republik als Einwanderungsland endlich vom Kopf auf die Füße stellen könnte. Bade liefert zu diesem überfälligen Paradigmenwechsel die historische Erzählung.

Wenn Bades kluge Sicht im Laufe der Zeit in die Alltagserzählung der Bürger und in die politische Debatte einsickert, wäre zum einen viel für den inneren Frieden der Republik gewonnen und zum anderen Deutschland besser vorbereitet für Europa.

Klaus J. Bade: „Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“. C. H. Beck, München 2000, 510 Seiten, 58,90 DM