Siebzehnsilber und Asphaltpflanzen

Haiku, Senryu, Renshi: Bei Uli Becker kommt es zum interkulturellen Clash von östlichen Gedichtformen mit dem Westen. Mit Durs Grünbein, Makato Ooka, Junko Takahashi und Shuntaro Tanikawa dichtete er am Fuße des Fudschijama

von DIETRICH ZUR NEDDEN

Siebzehn Silben bloß hintereinander stoppeln:ist das ein Haiku?

Nein, eigentlich nicht. Denn ein Haiku, diese japanische Form eines reimlosen Mikrogedichts in drei Zeilen mit 5–7–5 Silben, habe Natur pur zu sein, so will es die jahrhundertealte Tradition: Frühling, Kirschblüte, Sommer, Mondlicht, Herbst, Wolken, Winter, Schnee, der ganze Kram, „sinnlich angeschaut“, Meditation quasi in einem Augenblick und, ist er einmal verdichtet, in einem Atemzug gesprochen.

Neben dieser orthodoxen Definition existiert allerdings und Gott sei Dank ein Bastard des Haiku, Senryu genannt, der „entspiritualisierte Gegenentwurf“. Im Senryu darf der Einfachheit halber alles vorkommen, solange es zu einem Bild gefriert, solange es Zusammenballung verträgt. Und das, vermutet der Laie nicht zu Unrecht, ist doch simpel, das kann jede und jeder. Danach aber vergleiche man die eigenen Dreizeiler mit denen eines Autors wie Uli Becker. Wie weit der Weg ist / zur Senryu-Meisterschaft / wird dann sonnenklar.

Uli Becker legt zum dritten Mal ein Bändchen vor, das auf dem Umschlag Haiku verspricht, in dem aber Senryu drin sind oder schlicht Siebzehnsilber, wie Becker in einem instruktiven Nachwort seine filigranen Gebilde bevorzugt nennt, um den endlosen und entsprechend ermüdenden Abgrenzungsbemühungen zu entkommen.

Nach „Frollein Butterfly“, der 69 erotische Haikus – in Löffelstellung gewissermaßen – gewidmet waren, und den 61 „Asphalthaikus“ eines Berliner Pflastertreters, die Becker vor sieben Jahren in „Fallende Groschen“ gesammelt vorlegte, hat sich die Szenerie erheblich gewandelt: „Einsames Landhaus / quasi in Arkadien / Mensch, hier Mondschaf sein!“ Jenes Landhaus in toskanischen Hügeln, Sommerrefugium seit zwanzig Jahren, ist weder Tatort noch nur Fluchtpunkt, sondern Beobachtungsstation für den Großstadtmenschen, der aus dem Staunen nicht herauskommt, sein Herz zwar verliert, aber den nüchternen Metropolenwitz nie ganz: „Als Asphaltpflanze / macht man sich keinen Begriff, / was da kreucht und fleucht!“ Dieser Dr. Dolittle jedoch lehrt dem Getier nicht das Sprechen, wozu auch?, sondern schweigt mit ihnen, gibt sich dem (titelgebenden) süßen Nichtstun hin, findet für eine Zeitspanne „Frieden bei den Tieren“ (Becker), ein Zustand, der nicht unbedingt im Ätherischen angesiedelt sein muss: „Vögeln beim Fliegen / zuzuschauen, welche Lust! / Umgekehrt nicht so.“ Viel zu rasch aber nahen Abschied und Aufbruch, der Kater bleibt da – „Kommst du mit, mein Freund? / Tiger hätten's gut bei uns – / all die Wollmäuse!“ –, die Wehmut fährt mit fort: „Rücksturz zur Erde / them ol' Berlin Blues again: / Tamagotchi-Zoo“.

Wer nun auf den Geschmack gekommen sein mag, östliche Gedichtformen beim interkulturellen Clash mit dem Westen zu verfolgen, dem sei auch der Band „Licht verborgen im Dunkel“ empfohlen, ein Renshi von Uli Becker, Durs Grünbein, Makato Ooka, Junko Takahashi und Shuntaro Tanikawa – fünf Dichter, die beisammensaßen und reihum ein vierziggliedriges Kettengedicht in freien Drei- und Fünfzeilern, eben ein Renshi, verfassten. Das Quintett traf sich in Shizuoka, einer Stadt am Fuße des heiligen Berges Fudschijama, Zeitung und Fernsehen berichteten täglich vom Fortgang der Arbeit, und am Ende stand die öffentliche Präsentation in einer veritablen Konzerthalle.

Ein farbenreiches Gebilde ist entstanden, in dem ein Wort, ein Motiv das andere gibt, es konterkariert oder Assoziationen freisetzt für den jeweils folgenden Dichter ad libitum; Verbindungen zwischen den Lebens- und Gedankenwelten schimmern auf, Gegensätze, Ergänzungen, und über dem Ganzen scheint eine vom Ernsthaften erst mit dem zweiten Blick zu unterscheidende Heiterkeit auf, die viel Vergnügen macht.

Uli Becker: „Dr. Dolittles Dolcefarniente“. Maro Verlag, Augsburg 2000, 92 Seiten, 24 DMUli Becker u. a.: „Licht verborgen im Dunkel – Ein Renshi-Kettengedicht“. Griffel à gogo, Braunschweig 2000, 28 Seiten, 10 DM