Blindflug zur Aufrüstung im All

USA verfechten Konzept ihres Raketenabwehrschirms radikal. Deutsche Einwände dagegen wirken zerfahren

aus München PATRIK SCHWARZ

Es gab eine Zeit, da trug dieses wichtigste Jahrestreffen der westlichen Militärs und Verteidigungsminister noch den eher martialischen Namen „Wehrkundetagung“. Damals, im Kalten Krieg, war es den ganz vereinzelt auftauchenden grünen Politikern zugefallen, grundsätzliche Einwände gegen die Politik der Nato zu äußern. Bestenfalls konnten solche weltfremden Idealisten hoffen, dass ihnen erfahrene Teilnehmer aus dem „Security Establishment“ über den Kopf strichen und sagten, die Welt sei nun mal kein Ort für Idealisten.

Seit der Kalte Krieg vorbei ist, heißt die Veranstaltung etwas friedfertiger „Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik“ – und am vergangenen Wochenende hat ein CDUler die Rolle des Warners vor dem jüngsten Rüstungsirrsinn übernommen. Zwei Jahre nach dem rot-grünen Regierungsantritt blieb es einzig dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, überlassen, grundsätzlich die Berechtigung der amerikanischen Pläne zur Nationalen Raketenabwehr in Frage zu stellen: Seit Achilles und seiner sprichwörtlichen Ferse sei schließlich bekannt, so Lamers, dass Unverwundbarkeit eine Illusion sei. Dafür hat ihm dann die bündnisgrüne Politikerin Antje Vollmer beschwichtigend übers Haupt gestrichen – die Entscheidung Washingtons für NMD sei doch längst gefallen, da hülfen selbst noch so berechtigte Einwände nicht weiter.

Auch sonst zeigte die Tagung, die gestern zu Ende ging, sehr deutlich: Das Ende des Kalten Kriegs hat nicht nur im früheren Ostblock die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Schon vorab hatte das amerikanische „Center for Security Policy“ spekuliert, diese 37. Konferenz würde die vielleicht entscheidendste werden, seit auf der Wehrkundetagung 1983 über die Aufstellung der Pershing-II-Raketen gestritten wurde. Bemerkenswert war sie in jedem Fall. Zum ersten Mal traf hier die rot-grüne Außenpolitik-Troika aus Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Rudolf Scharping auf den Verteidigungsminister der neuen US-Regierung. Donald Rumsfeld wurde in München unterstützt vom feurigen Vietnam-Helden und republikanischen Senator John McCain, der in den Vorwahlen George W. Bush die Nominierung als Präsidentschaftskandidat streitig gemacht hatte, und von Senator Joseph I. Lieberman, dem Vizepräsidentschaftskandidaten des demokratischen Bewerbers Al Gore.

Überragendes Thema für Amerikaner und Europäer war der transatlantische Streit um das „National Missile Defense“-System, kurz NMD. Während die Bundesregierung und viele EU-Staaten fürchten, durch einen Raketenabwehrschirm könnte Russland zu neuer Aufrüstung veranlasst werden, beteuert die Bush-Administration, NMD sei rein defensiv und könne allein schon deswegen die Beziehungen zu Moskau nicht gefährden.

Das Zusammentreffen beider Seiten bot einen fast schon skurrilen Anblick: Die Amerikaner priesen die Bedeutung von NMD für die USA und den Weltfrieden mit einem Enthusiasmus und einer Radikalität, wie es wahrscheinlich nur eine Administration ganz am Beginn ihrer Amtszeit vermag. Die rot-grüne deutsche Mannschaft dagegen wirkte in ihrer Kritik an dem Rüstungsvorhaben so zerfahren, halbherzig und unschlüssig, als hätten zwei Jahre an der Macht ihr jede jemals vorhandende Entschlossenheit ausgetrieben.

Bundeskanzler Schröder vermochte sich in seiner Rede gerade noch zur Forderung nach „einem intensiven Meinungsaustausch im Rahmen der Nato“ aufzuschwingen. Nach dem schwachen Auftritt des überdies grippegeplagten Kanzlers hieß es aus seinem Stab, die Zurückhaltung sei durchaus beabsichtigt gewesen: Der Bundesregierung sei es darum gegangen, „alle Scheunentore aufzumachen für den Dialog“, um so vielleicht später die NMD-Begeisterung in Washington ein wenig zu dämpfen. Gänzlich unproduktiv wäre es gewesen, „wenn wir uns jetzt hier in unsere Skepsis eingemauert hätten“. Auch Fischer stellte das Projekt nicht grundsätzlich in Frage, benannte jedoch immerhin konkrete „Kernpunkte“ der Bundesregierung: So dürfe NMD den Zusammenhalt in der Nato nicht gefährden, das Bündnis müsse neue Rüstungswettläufe verhindern und die Abrüstung vorantreiben.

Allerdings herrscht im Team Schröder, Fischer, Scharping offenkundig weder rechte Klarheit darüber, ob NMD eigentlich zu verhindern ist, noch darüber, ob dies ein Ziel deutscher Politik ist. Erschwert wird die Meinungsbildung im Kabinett offenbar durch die Unsicherheit, ob die US-Pläne technisch und finanziell realisierbar sind und auf welchen Wegen man sich ihnen gegebenenfalls entgegenstellen könnte. Man ist also unschlüssig über Ziele wie Mittel.

Verdeckt werden schließlich Zweifel an der Lauterkeit der amerikanischen Motive genannt: Sicherheitspolitik sei in den USA eben immer auch „Technologiepolitik“, heißt es. Im Klartext: NMD hat in den USA heftigen Rückenwind aus der Industrie, weil Rüstungskonzerne dafür im großen Stil staatliche Forschungsgelder lockermachen können. Am liebsten, so ist herauszuhören, wäre es Berlin wohl, wenn NMD einfach nicht klappt.

Die deutsche Regierung schürt indes mit ihrer unklaren Haltung unfreiwillig die Ängste der Amerikaner. In Washington fürchtet man ohnehin eine Verzögerungstaktik der Europäer. „Ich bin hier, um zuzuhören, zu lernen und einzuordnen“, sagte zwar der Neuling im Pentagon, Donald Rumsfeld. Aber das Schlagwort, mit dem der Verteidigungsminister wie auch Exaußenminister Henry Kissinger NMD in München rechtfertigten, lautet „Verwundbarkeit“. Gegen den globalisierten Terrorismus helfe die nukleare Abschreckung nicht, heißt es, und Raketen mit Massenvernichtungswaffen seien immer leichter verfügbar. Kein US- Präsident könne sein Volk wissentlich diesen Bedrohungen aussetzen, sagte Rumsfeld, daher sei die Stationierung von NMD „in vieler Hinsicht eine moralische Frage“.

Natürlich steckt in dieser Darstellung eine gute Portion Stilisierung. Gleichzeitig erklärt sie die Entschlossenheit der Bush-Administration, sich NMD von Europäern nicht ausreden zu lassen. Das Entgegenkommen der USA besteht derzeit in mehr, nicht weniger NMD: Auf Wunsch bietet Donald Rumsfeld eine Ausweitung des Schutzschirms auf die Verbündeten an.

So sind die Chancen für eine Annäherung eher gering, zumal die Regierungen der EU-Staaten derzeit in Washington unter Generalverdacht stehen. Das Bush-Team sieht in der geplanten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ein Konkurrenzunternehmen zur Nato. Henry Kissinger unkte in München bereits, aus der geografischen Kluft zwischen Europa und Amerika könnte bald eine politische werden. Auf den transatlantischen Dialog freue man sich derzeit ohnhin wie auf einen Zahnarztbesuch.