Abenteuer Menschlichkeit

Ethik ist nur noch was für PR-Abteilungen: Die Künstlerin Beate Maria Wörz hat 60 Plakate mit Worten wie „unbehaust“ oder „bedacht“ in den öffentlichen Raum gehängt

Auf die S-Bahn warten heißt Plakate lesen: „Du willst Respekt? Ich auch“. „Rindfleisch gehört in meinen Menüplan“. „Gibst du mir vielleicht eine AusBildungsChance?“ Die Bahn kommt, und während sich die Türen schließen, grübele ich, warum das ABC in dieser Anzeige aus Getreidekörnern gebildet ist und ob es wohl einen Zusammenhang zwischen Fleischkonsum, Bildungsniveau und Ausländerfeindlichkeit gibt? Der Zug fährt an, und die Frage verzischt wie die Spiegelungen an den Fenstern.

Aber schon beim Ausstieg geht es wieder los. Das Foto eines glücklichen Kindes ist überschrieben mit „Leben ist schön. Spende Blut beim Roten Kreuz. Das Abenteuer Menschlichkeit“. Über das arme Kind daneben erfahre ich: „Sie ist 9. Sie will weg von der Straße und schreiben lernen. Brot für die Welt“. Wenige Schritte weiter wirbt die „Aktion Mensch“ für das „Recht auf Unvollkommenheit“.

Plakate werben. Aber sie werben in zunehmendem Maße nicht mehr nur für Produkte, sondern für soziale Verantwortung. Ethik scheint plötzlich vor allem eine Sache von PR-Abteilungen. Soziale Gerechtigkeit wird in Zeiten des Neoliberalismus weniger als eine Frage der Gesetzgebung als vielmehr der mediengerechten Kommunizierbarkeit verhandelt. Der öffentliche Raum fließt über von Appellen, hinter denen das schlechte Gewissen der Gesellschaft aufblitzt. An diesen Trend, ein Bild von der Gemeinschaft aller Menschen auszumalen, hängen sich große Unternehmen wiederum dran. „Elemente fürs Leben“ verspricht berlinwasser mit frisch gebadeten Kinderfüßen, und man ahnt schon, dass die bald mehr verkaufen wollen als nur Wasser. Die Unterscheidung, ob da ein Konzern, eine Lobby, ein umweltpolitischer Verband oder eine karitative Institution für sich wirbt, wird immer schwieriger. In diese Sprache der Stadt haben sich jetzt in Berlin einige leise Worte geschlichen. Nicht mehr als jeweils ein Begriff, klein geschrieben: „unbedacht“ steht zwischen Immobilienanzeigen, „hausen“ an einem vermüllten Rasenstück zwischen Straßen- und Bahndamm, „unbehaust“ an den Betonwänden des sozialen Wohnungsbaus, „bedacht“ hinter einem Bauzaun. Schon das städtebauliche Umfeld, zugig und durchtost vom Lärm der großen Verkehrstraßen, zeigt die Stadt von ihrer unwirtlichen Seite. Die Gesellschaft von Plakaten, auf denen Börsengewinner vor Freude tanzen und blitzende Küchen im warmen Dunst verschwimmen, verschärft den Kontrast. Hier wird von denen gesprochen, die aus diesen Welten herausgefallen sind. Kann man bedacht handeln, wenn man unbehaust lebt?

Auf den Weg gebracht hat die 60 Plakate und eine Serie von Postkarten die Berliner Künstlerin Beate Maria Wörz. Die Verkäufer der Motz in der U-Bahn und die Bettelnden in den Bahnhöfen, die jeden Berliner mit der Situation der Obdachlosigkeit konfrontieren, beschäftigten sie. Bei einem Arbeitsaufenthalt in Österreich war „beheimatet sein“ ihr Thema. Sie zeichnete Stadtpläne und hörte im Radio die Nachrichten von den Flüchtlingen aus dem Kosovo. Wie lebt man ohne Heimat, ohne eigene vier Wände, ohne Dach über dem Kopf? So entstand ihr Plan, die Prozesse der Ausgrenzung dort zu thematisieren, wo sie stattfinden. Erst bei der Realisierung wurde ihr klar, dass der öffentliche Raum längst vermarktet ist.

Bundesweite Kampagnen verschlingen schnell Millionen. Ohne einen Zuschuss der Stiftung Kulturfonds und ohne die Unterstützung der Plakatierer, die ihr einen Teil der Klebekosten erließen, hätte sie ihr Projekt nicht durchführen können. Bis zum 15. Februar hängen ihre Plakate in Berlin.

KATRIN BETTINA MÜLLER