Geschichtskonstruktionen

Es war keineswegs selbstverständlich, dass das Institut für Sozialforschung nach dem Krieg wieder in Deutschland seine Arbeit aufnahm. Die 68er haben es für ihre Interpretationen vereinnahmt

von RUDOLF WALTHER

Seit nunmehr über zwei Wochen tobt ein Medienkrieg um das Thema „1968“. Mediale Dramatisierungsbedürfnisse? Sicher. Aber die Erregung verrät auch: Der Stachel von „1968“ sitzt tief.

Wie tief, das versuchen Christian Schneider, Cordelia Stillke und Bernd Leineweber mit großer Ernsthaftigkeit herauszufinden. Sie gehören der Protestgeneration an und verstehen sich als Schüler der Kritischen Theorie. In einer Art philosophisch-psychologischer Selbstverständigung beschäftigen sie sich mit ihrer eigenen „Bildungsgeschichte“, die geprägt wurde durch das Studium bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Der Schritt von der Selbstanalyse zur „Generationengeschichte“, die die Autoren im Untertitel versprechen, ist allerdings methodisch und sachlich heikel.

Dass das Frankfurter Institut nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Mord an den europäischen Juden überhaupt wieder zurückkam, war keineswegs selbstverständlich. Schneider, Stillke und Leineweber deuten die Gründe für die Rückkehr psychoanalytisch als tief verankerte psychische Dispositionen. Bei Horkheimer, dem „die Vorstellung, dass man dazugehört“, zeitlebens fremd war, ist es ein quasi-adoleszentes Rebellentum, das ihn immer antrieb. Er kehrte zurück, weil er der deutschen Jugend mit einer „Erziehung zum Widerstand“ bei der Abgrenzung von den Generationen der Täter und Mitläufer helfen wollte. Als Herbert Marcuse allerdings mitten im Handgemenge von 1968 vom „Naturrecht“ auf Widerstand sprach – was trotz der Anführungszeichen ziemlich missverständlich blieb –, distanzierte sich Horkheimer öffentlich von ihm. Für Adorno gibt es biografisch evidente Zeugnisse, dass er sich schon als Kind als „Außenseiter“ und „Opfer“ fühlte. Diese psychischen Dispositionen und Erfahrungen Horkheimers und Adornos sind für die „Geschichtskonstruktion“ der Kritischen Theorie – so die Grundthese des Autorenkollektivs – ausschlaggebend geworden. Horkheimer und Adorno entschieden sich zur Rückkehr, weil sie als Überlebende vor der nachwachsenden Generation als „Statthalter der Ermordeten“ auftreten wollten. „Die Entscheidung, ihn als ‚Bruder der Opfer‘ des Nationalsozialismus zu sehen, hat Horkheimer nicht nur seinen professoralen Kollegen, sondern auch seinen Schülern abverlangt.“

Diese „Schüler“ – aufgewachsen in Elternhäusern, wo die Vergangenheit bis 1968 „beschwiegen“ (H. Lübbe) und die Mitschuld am Völkermord verdrängt worden war – nahmen das Angebot der Ersatzvaterschaft an, waren aber mit der Identifikation mit den Opfern überfordert. Freilich enthielt dieses Angebot auch zwei fragwürdige Ambivalenzen: „Kritische Theorie“ wurde von vielen Studenten nicht als fachphilosophische Disziplin, sondern wegen des Formats und des Habitus ihrer Repräsentanten als „eine Art Lebenslehre“ verstanden. Kaum eine Theorie war jedoch dafür ungeeigneter als die Kritische Theorie, denn diese hatte ihr Gravitationszentrum in der Negativität, die als „Nichtidentisches“ beschworen wurde, während alles „Identische“, einem Verdikt verfiel: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.“ Das Autorenkollektiv unterstellt, derlei Zuspitzungen könnten bei Studenten „ein Trauma“ oder „das Grundgefühl einer ‚negativen Identität‘“ erzeugt haben. In welchem Ausmaß das der Fall war, ist eine nichtaufklärungsfähige Frage. Ambivalent war die „Kritische Theorie“ auch als Gesellschaftstheorie, insofern sie sich oft nicht allzu konkret auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse einließ, sondern das Ganze zum „Verblendungszusammenhang“ erklärte und im negativ besetzten Begriff des „Bestehenden“ bündelte. Als die Studentenbewegung daran ging, das „Bestehende“ als kapitalistische Macht- und Klassenverhältnisse auszubuchstabieren, wurden sie von ihren Lehrern nicht mehr verstanden. Umgekehrt sahen sich die Studenten allein gelassen und verraten.

Schneider, Stillke und Leineweber spüren mit erheblichem Aufwand den Spuren nach, die das Konzept der Stellvertreterschaft der Ermordeten im Werk Adornos hinterlassen hat. Sie kommen dabei zum Schluss, dass schon die „Dialektik der Aufklärung“ (1947), vollends jedoch die „Negative Dialektik“ (1966) „in gewisser Weise“ Sedimente der Lebensgeschichte der beiden Autoren darstellen. Dem hätten Horkheimer und Adorno, die vom „Zeitkern“ ihrer wie jeder Theorie sprachen, nicht widersprochen. Im Bemühen, diesen „Zeitkern“ biografisch festzumachen, greifen die Autoren manchmal etwas kurz, etwa wenn sie Adornos Kritik an der Psychoanalyse als Therapie auf seine „Überlebensschuld“ zurückführen möchten.

Wenn man das Buch von Schneider, Stillke und Leineweber als Analyse zur Selbstverständigung über ihre eigene Anziehung durch und Distanz zur Kritischen Theorie liest, kann man es nicht hoch genug schätzen. Aber leider geht der Ehrgeiz der Autoren weit darüber hinaus. Mit dem ambivalenten Gestus von 68ern gehen sie aufs Ganze und möchten mindestens alles in den Griff bekommen. Das geht schief. Vier Einwände, weniger gegen das Buch, als vielmehr gegen seine totalisierenden Zumutungen:

Methodisch steht der „psychohistorische“ oder „generationengeschichtliche“ Zugriff auf schwachen Beinen, denn Generationszugehörigkeit ist – wie die Autoren wissen – „ein höchst subjektives Anliegen“. Generationszuschreibungen sind „Artefakte“ von unbeschränkter Willkür („Generation Golf“). Um Generationen zum „Prinzip von Geschichte selbst“ zu machen, fehlt es an elementaren theoretischen wie empirischen Grundlagen. Wenn die Autoren „ich“ sagen oder wenn man hinter ihren Sätzen wenigstens ein „Ich“ vermuten darf, kann man ihnen folgen (oder nicht). Aber wenn sie „wir“ sagen, wissen sie selbst nicht, wovon sie reden. Deshalb müssen hier schwache argumentative Krücken wie der Hinweis auf eine „generationelle Logik“ aushelfen.

Die pauschalisierende Reduktion der Protestbewegung als „generationsmäßige Verschiebung“ des verpassten Widerstands der Väter gegen den Nationalsozialismus auf die Söhne ist eine geistreiche Pointe, aber angesichts der gleichzeitigen weltweiten Proteste doch eher eine flinke Improvisation, eine sehr BRD-zentrierte obendrein. Die These wird auch nicht überzeugender, wenn man sie von „Widerstand“ auf „Schuld“ umpolt: „Das kollektive Introjekt, das die Bewegung beherrschte und antrieb, war die Schuld ihrer Väter (und Mütter), die diese nicht anerkennen wollten und auf ihre Kinder verschoben haben.“ Nicht einmal für die Frankfurter Verhältnisse erbringen die Autoren einen stichhaltigen Beleg, dass sich hier die „Täterkinder als Opferkollektiv“ verstanden und zum Protest formierten. Die Motivlagen und die Handlungsdispositionen dürften etwas vielschichtiger gewesen sein.

Dass sich die Kritische Theorie als „Sprecherin für die Ermordeten“ verstand, ist unbestreitbar. Allein – in diesem biografisch begründeten Anspruch ging sie nicht auf. „Überlebensschuld“ war ein wichtiges Motiv in Adornos Philosophie, aber nicht das Motiv schlechthin, wie die Autoren suggerieren. Man konnte die Theorie auch – außerhalb von Frankfurt jedenfalls – ohne Rücksicht auf jenen Anspruch und dieses Motiv rezipieren und verstehen – so bruchstückhaft wie immer.

Dass die Kritische Theorie mit dem Tod Adornos (1969) an ihr Ende gelangte und nur als Karikatur fortzusetzen gewesen wäre, ist wohl richtig. Andererseits ließe sich leicht zeigen, in wie viele Richtungen tragende Impulse dieser Theorie produktiv weitergewirkt haben. Selbst die radikale Neu- und Umorientierung der Gesellschaftstheorie, mit der Jürgen Habermas noch zu Lebzeiten Adornos begonnen hat, bewahrt einige Motive – bei aller Distanz zum Kernbestand – der radikalen Vernunftkritik. Schneider, Stillke und Leineweber unterstellen, dass Habermas mit der diskurstheoretischen Wende auch die Möglichkeit aufgegeben habe, mit einem „advokativen Vernunftbegriff“ aus „der Perspektive des Überlebens für die Opfer zu sprechen“. Da die Autoren mit Habermas sonst sehr fair verfahren, muss man annehmen, dass sie diesen mit ihrem Satz nicht verleumden wollten, sondern nur die Ebene der theoretischen Grundlegung mit jener der diskursiven Praxis verwechselten.

Christian Schneider/ Cordelia Stillke/ Bernd Leineweber: „Trauma und Kritik. Zur Generationengeschichte der Kritischen Theorie“. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2000, 227 Seiten, 48 DM