Auf der schönen schiefen Bahn

Wahre Lokale (57): „Die kleine Philharmonie“ in Berlin und die Spuren der Einsamkeit

In der Musikbox kratzen diese unschlagbaren Klageweiber, die noch jeden Tränenfluss stützen

Tante Ria schaute mich traurig an: „Diese Männer sind im Leben sehr einsam“, sagte sie und meinte unseren Drogisten, der einen schlechten Ruf hatte. Das war meine erste Lektion in homosexueller Angelegenheit, lange bevor ich lernte, dass Analverkehr schmutzig ist und schwule Männer alte Säcke sind, die gern kleine Jungs besabbern. Als ich später selbst auf die schiefe Bahn geriet, entdeckte ich in den Berliner Bars und Diskotheken nur Spaß und Sex und schrecklich schöne Männer, von Einsamkeit keine Spur. Bis ich „Die kleine Philharmonie“ betrat, in Wilmersdorf in der Schaperstraße.

Gleich vorne rechts an der Theke saß ein Mann mit schütterem Haar und Seidenshawl. Er weinte leise vor sich hin und blickte mit glasigen Augen abwechselnd durch das große Fenster nach draußen oder auf die überdimensionale Musikbox schräg gegenüber in der Ecke. Edith Piaf sang ihre „Hymne à l’amour“, und die Platte kratzte. Ich ging schnell nach hinten durch in den eigentlichen Gastraum und ließ mich auf eines der alten Sofas fallen.

Abgetretene Perserteppiche lagen hier stapelweise und dämpften jeden Schritt, an der Decke hingen Schirme, und die Bilder waren goldlackgerahmt, bespickt mit Plastikblumen hie und da. Die Wirtin setzte sich kurz dazu: „Sie müssen nicht überrascht sein, aber er hat Liebeskummer, sein junger Freund hat ihn verlassen.“ Sie flüsterte und richtete dabei ihre blondgefärbte Dauerwelle. Dann neigte sie ihren Kopf, die Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und der rot gefärbte Mund öffnete sich zu einem breiten Lächeln: „Und was möchten Sie trinken, bitte sehr?“

Das also war Wanda. Jeder in der Szene kannte Wanda, und verabredete man sich bei ihr, so hieß es nur: „Bis später, bei Wanda.“ Mehr musste nicht gesagt werden, außerdem war ihr Nachname unaussprechlich: Wrubliauskaite. Zur Welt kam sie im litauischen Kaunas als Jüngste von neun Kindern, ihre Mutter war Wäscherin, der Vater Stukkateur. 1938 brachte sie ein Schulstipendium nach Berlin, dann wurde sie in Dresden ausgebombt und ging schließlich in die damalige Tschechoslowakei. Erste Ehe, erste Scheidung, 1947 war sie wieder zurück in Berlin. Tagsüber schleppte sie Steine, nachts arbeitete sie in einer Bar, für 87 Pfennig die Stunde. Bis es reichte für ihr eigenes Lokal, „Die kleine Philharmonie“.

Die Schwulen entdeckten sie schnell, sie konnte zuhören und trösten. Half gar nichts mehr, verschwand sie ganz nach hinten in ihre kleine Küche und zauberte eine Platte mit Schnittchen: „Komm, iss erst mal was!“ Wanda war die Mutter, die die meisten schwulen Männer so sehnlich vermissten, und die erfahrene Frau, bei der es keine Tabus gab im Gespräch. „Weißt du“, gab sie oft zum Besten, „wenn alle Männer, mit denen ich zusammen war, zu Stacheln würden auf meinem Körper – ich wäre ein kleiner Igel.“ Und wie eine Löwin konnte sie ihre schwulen Gäste verteidigen. Hörte sie von einem ihrer übrigen Gäste, dass er sich über die Schwulen mokierte, so setzte sie ihn vor die Tür, ohne Zögern. Frauen hatten es schwer bei ihr: „Ich lasse sie nicht gerne vorne an der Bar sitzen“, erklärte sie einmal ihre ständige Aufforderung an weibliche Gäste, doch im hinteren Raum Platz zu nehmen. „Denn die Männer hier sind so sensibel. Die tun ja nichts, kuscheln sich, halten Händchen. Aber wenn sie eine Frau vorne sehen, die so guckt, dann kriegen sie Hemmungen und sind verstimmt.“ Außerdem: „Ich brauche keine Konkurrenz, hier vorne herrsche ich alleine, und die Männer gehören alle mir.“

Immer im Juli, wenn Wanda Geburtstag hatte, nahm sie dankbar jeden Blumengruß entgegen, teilte die Sträuße auf in lauter kleine und verteilte sie an Krankenhauspatienten. Ihre Trinkgelder spendete sie regelmäßig für wohltätige Zwecke, und bei kleinen Feiern sammelte sie immer wieder einen stattlichen Extrabetrag. Wandas besondere Sorge galt in ihren letzten Jahren den Aids-Kranken, die besuchte sie auf den Klinikstationen. Sie verteilte rote Schleifen im Lokal und verkaufte Safer-Sex-Plakate zu horrenden Spendenpreisen. Dafür wählten sie die Leser des schwulen Stadtmagazins Siegessäule 1986 zur „Persönlichkeit des Jahres“, eine Ehrung, die ihr selbstverständlich schien und sie doch ungemein stolz machte.

Wanda lebt nicht mehr, aber sie ist immer noch da. Nichts hat sich verändert in ihrem Lokal, das weiße Telefon schrillt so laut wie einst, dieselben alten Teppiche stapeln sich noch immer, in der Musikbox kratzen weiterhin Marlene Dietrich und Edith Piaf, Shirley Bassey und Zarah Leander, diese unschlagbaren Klageweiber, die noch jeden Tränenfluss stützen. Das Bild von Willy Brandt, dem politischen Idol der engagierten Sozialdemokratin Wanda, hängt noch an seinem Platz, und Schmalzstullen schmecken immer.

Und einsame Männer? Tante Ria hatte Recht, auch sie gehen nicht verloren. Wie der dicke Banker mit dem kläffenden Hundebündel unter dem Jackett und seinen traurigen Geschichten ohne Freund. Mein Begleiter stößt mich an: „Lass uns geh’n.“ Aber ich bleibe noch, auf einen Eierlikör. Nirgendwo sonst wird er mir so selbstverständlich serviert wie hier, ohne flapsigen Spruch oder mitleidigen Blick. Das war früher bei Wanda auch schon so. ELMAR KRAUSHAAR