die stimme der kritik
: Betr.: Bürger beobachten die Bahn (Teil 5)

Deutsche Bahnsteigkartenpsyche fördert deutsches Rumpelreisen

Neulich kam eine schlechte Nachricht für Bahnreisende, die eine gute Nachricht für die Deutsche Bahn war: Die private Konkurrenz der semistaatlich gepäppelten Klapperbahn, die Firma Eurobahn, hat ihre Regionalstrecke Bielefeld – Köln aufgegeben. Grund: zu geringe Auslastung (nur knapp 20 statt der erhofften 50 Prozent), also unwirtschaftlich. Die Zeit sei noch nicht reif gewesen, sagte ein Eurobähner.

Zeit wofür? Zeit für ein modernes Verkehrsmittel. Wer immer mit der Eurobahn gefahren war, hatte das freundliche Personal gelobt, die neuen Panoramawagen, die günstigen Preise für Bahncard-lose Gelegenheitsreisende und den wundersam guten Service (Kaffee, Snacks, Zeitungen).

Aber: Eurobahn hatte festgestellt, dass sich viele potenzielle Kunden gescheut hätten, die neuen Wagen zu betreten. Der Grund ist deutsch, wie es deutscher kaum geht. Man konnte, weil die Eurobahn keine eigenen Schalter hat, nur in den Wagen bezahlen.

Doch das tut nicht gern, wer mit dem gesunden deutschen Spezifikum Bahnsteigkarte aufgewachsen ist: bah, Vorsicht! Einfach einsteigen – bin ich dann nicht ein Schwarzfahrer? Wenn das jemand sieht! Ich da rein, ohne vorher meine Zugangsberechtigungsnachweispflicht zu erfüllen? Niemals! Die deutsche Seele war nie bereit für den Umsturz (Lenins Wort gilt ungebrochen: „Wenn der Deutsche Revolution machen will, kauft er sich erst eine Bahnsteigkarte“), und sie ist es nicht für eine freundliche, klapperfreie, moderne Schienenwelt.

Da meldet sich das Original zu Wort. Die Deutsche Bahn hat ihre gerade erst angekündigte Tarifreform vorerst zurückgezogen.

Der Grund ist bahnischer, wie es bahnischer kaum geht: Man schaffe es nicht, die eigenen Rechner und Buchungssysteme (ja, das kann die Bahn schon elektronisch, ohne Rechenschieber) bis dahin umzustellen und umzuprogrammieren.

Bis dahin? Bis zum 1. 1. 2002. Elf (in Zahlen: 11) Monate Zeit reichen nicht. Das hat was Ehrliches: Die Bahn AG scheitert vorsichtshalber an sich selbst. Lerneffekt für das Beförderungsmaterial (Kunden): Jede stundenweise Verspätung ist vergleichsweise weniger als ein Augenblinzeln. Nicht grämen also, Reisende. Bald lassen sie ihre Züge ganz stehen. Sagen weise „Verehrte Reisewillige. Wir schaffen es nicht in elf Monaten von Bielefeld bis (beispielsweise) Köln“ und führen als revolutionären Mobilitätspass die Bahnsteigkarte wieder ein. BERND MÜLLENDER