„Ich will eine EU-Verfassung“

„Die Einführung des Euro ist ein unglaubliches Projekt. Stellen Sie sich nur mal die unzähligen Lastwagen vor, die Münzen und Scheine zu den Banken in ganz Europa bringen müssen.“

Das Gespräch führtenSABINE HERRE
und DANIELA WEINGÄRTNER

taz: Herr Präsident, Sie haben sich einmal mit einem Dieselmotor verglichen, der langsam startet, aber dann an Geschwindigkeit zulegt. 16 Monate sind Sie nun im Amt. Wie schnell fahren Sie denn inzwischen?

Romano Prodi: Ich denke, ich habe ganz schön zugelegt. Mir gefällt dieser Job mehr und mehr. Ich mag ihn jetzt wirklich. Am Anfang gab es viele Probleme – auch menschliche. Man muss schließlich die multinationalen und multikulturellen Erfahrungen in Europa respektieren. Ein Kabinett, das sich aus Kommissaren so vieler Länder zusammensetzt! In der italienischen Regierung hatte ich es mit Engeln und Teufeln, Fähigen und weniger Fähigen zu tun – doch ich kannte sie alle. Hier in Brüssel musste ich ganz von vorne anfangen, die Menschen erst kennenlernen. Eine sehr schwere Aufgabe, schließlich gibt es auf der ganzen Welt keine Institution, die der EU-Kommission vergleichbar ist.

Und Ihr Motor – muss der in Zukunft an Tempo noch zulegen?

Ja, ganz sicher. Die Einführung des Euro zum Beispiel, das ist ein ganz unglaubliches Projekt. Stellen Sie sich nur mal die unzähligen Lastwagen vor, die Ende des Jahres Münzen und Scheine zu den Banken in ganz Europa bringen müssen. Der Euro ist eine ganz große Aufgabe. Die zweite große Herausforderung ist natürlich die Erweiterung der Union. Unglaubliche Einkommensunterschiede zwischen neuen und alten Mitgliedsländern müssen ausgeglichen werden. Etwas Vergleichbares hat es in der Geschichte noch nicht gegeben.

In Ihrer ersten Grundsatzrede vor dem Europäischen Parlament im Oktober letzten Jahres warnten Sie vor einer Union, in der die zwischenstaatliche Ebene immer wichtiger wird und die supranationalen Institutionen immer weniger zu sagen haben. Sie haben schnell Recht behalten. Genau diese Tendenz bestätigte sich beim EU-Gipfel in Nizza.

Ich bin nicht gerade in Freudengeschrei ausgebrochen über die Ergebnisse von Nizza. Ich habe in Straßburg diese Rede gehalten, weil es eine wachsende Stimmung gibt, alte europäische Traditionen dem europäischen Integrationsprozess preiszugeben und die übernationale Idee zu schwächen. Es war meine Pflicht, an das wirkliche Europa zu erinnern. Aber in Nizza ist eines wirklich gut gewesen: Die Osterweiterung bekam grünes Licht.

Aus Ihrer Sicht gab es aber doch sicherlich noch einen zweiten positiven Punkt: Die Position des Kommissionspräsidenten wurde gestärkt. Jetzt sind Sie der Gegenspieler der Regierungschefs.

Das ist vor allem etwas für meinen Nachfolger . . .

. . . heißt das, Sie denken nicht an eine zweite Amtszeit?

Die Frage stellt sich natürlich noch gar nicht. Ich bin erst am Beginn meiner Amtszeit.

Wir dachten, wir hätten nun eine Schlagzeile.

Ja, vor allem eine für Italien. Aber im Ernst: Dass der Präsident gestärkt wurde, ist ein Erfolg, den die Kommission in Nizza erreicht hat. Dadurch ist es auch möglich, die größer werdende Kommission effizient zu organisieren. Na ja, nach der Erweiterung haben wir vielleicht tatsächlich ein paar Kommissare zu viel. Wenn man aber die Aufgabenbereiche der Kommissare bestimmen oder sie sogar entlassen kann, dann kann man als Präsident gute Arbeit garantieren.

Eines der größten Probleme, die gelöst werden müssen, ist die künftige Finanzierung der Agrarpolitik angesichts von BSE. Der Haushaltsplan der EU, die Agenda 2000, gilt bis 2006. Er wurde vor Ihrer Amtszeit beschlossen. Müssten Sie jetzt nicht auf eine Revision der Agenda dringen?

Die Agenda ist wie der Talmud. Sie ist Gesetz. Vorgesehen ist aber, dass sie in der Mitte der Haushaltsperiode überprüft wird, also 2003. Wenn etwas Neues passiert, muss man darauf reagieren – und zur Not Änderungen vorschlagen. Sieben Jahre sind schließlich eine lange Zeit. Die BSE-Krise war ein nützlicher Schock. Es gibt nun eine größere Bereitschaft für eine neue Landwirtschaftspolitik, die nicht nur unterstützt, dass viel produziert wird, sondern mehr auf Qualität setzt.

Dazu muss aber auch Frankreich bereit sein. Paris hat bisher blockiert, und 2002 sind dort Wahlen.

Ja, 2002. Die Überprüfung der Agenda erfolgt jedoch 2003.

Mehr Geld fordern auch die neuen Bundesländer von Ihnen, die direkt an die osteuropäischen Beitrittskandidaten angrenzen. Sie haben Ostdeutschland besucht. Hat es eine Chance, von der EU zusätzliche Hilfe zu bekommen?

Die Kommission ist gerade dabei, ein spezielles Programm für die Grenzregionen vorzubereiten. Wir brauchen hierfür eine sehr, sehr gründliche Analyse der regionalen Probleme, das wurde mir bei meinem Besuch in Brandenburg und auch in Berlin klar. Ich befürchte aber keine Welle von Emigranten. Ich habe da aus Italien andere Erfahrungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind alle meine Nachbarn nach Frankreich, nach St. Etienne emigriert, aber sie kamen bald zurück. Nicht weil sie reich geworden waren. Sie kamen zurück, als sie wieder Hoffnung hatten. Und die Erweiterung gibt den Osteuropäern Hoffnung. Natürlich existiert in den Grenzregionen ein Lohngefälle von West nach Ost, und es wird deshalb künftig mehr Tagespendler geben. Hier sehe ich das eigentliche Problem. Nicht in der Emigration. Wenn es nötig ist, dann muss es dafür zusätzliches Geld geben. Die Frage ist, wo es herkommen soll.

Genau das würde uns interessieren.

Darüber haben wir noch nicht entschieden. Bis zur Erweiterung dauert es noch ein paar Jahre. Wir haben noch Zeit.

Haben Sie Verständnis dafür, dass auch ein reiches Bundesland wie Bayern angesichts der Osterweiterung zusätzliche Hilfe fordert?

Nun, auch Bayern hat Grenzprobleme. Ich will da niemanden diskriminieren. Doch es ist schon bemerkenswert, dass zum Beispiel in der Grenzregion Slowenien-Italien viel weniger psychologische Probleme existieren. Da gab es keinen so großen Alarm in den Massenmedien wie in Deutschland.

Für Deutschland und seine Bundesländer war der Beschluss über einen sogenannten Post-Nizza-Prozess das wichtigste Ergebnis des EU-Gipfels an der Côte d’Azur. Man will Brüssel und hier vor allem auch der Kommission Zuständigkeiten wegnehmen. Ist das nicht eine rein deutsche Debatte?

Nein. Auch ich selbst habe eine solche Debatte über Gewaltenteilung vorgeschlagen. Aber in vielen Punkten handelt es sich hier um eine Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern. Da will ich meine Nase nicht hineinstecken.

Welche Kompetenzen sind Sie denn bereit, an die Nationalstaaten abzutreten?

Sie verlangen ein bisschen viel. Die Debatte soll drei Jahre daueren. Da haben wir jetzt noch keine Ergebnisse. Gerade die BSE-Krise zeigt, dass es natürlich eine supranationale Autorität geben muss. Einen, der überprüft, was die Nationalstaaten tun. Die Regeln für den Verbraucherschutz können sich doch in Italien, Deutschland oder Spanien nicht unterscheiden. Aber etwas müssen wir auch abgeben.

Wer soll denn über diese Kompetenzen debattieren? Die Regierungen, die EU-Kommission, das Europäische Parlament?

Ich bin für einen dreistufigen Prozess. Von jetzt an bis zum Ende des Jahres brauchen wir eine breite, freie Debatte mit der Kommission, dem Europäischen Parlament, den nationalen Parlamenten, der europäischen Öffentlichkeit, der Zivilgesellschaft, den Universitäten. Beim Gipfel der EU-Regierungschefs Ende des Jahres in Laeken unter belgischer Präsidentschaft soll es dann eine Erklärung geben. Ganz ohne Paragraphen, aber mit einer Liste all der Punkte, die man in den nächsten drei Jahren diskutieren muss. Niemand ist heute besonders erpicht auf eine neue Regierungskonferenz. Daher könnten wir für diese zweite Phase auf die Erfahrungen bei der Erarbeitung der Grundrechtecharta zurückgreifen. Am Ende müsste dann eine Regierungskonferenz zusammentreten, weil die Verträge es so vorsehen.

Sollte diese Debatte mit einer Verfassung für die Europäische Union abgeschlossen werden?

Die Charta der Grundrechte, die wirklich gut ist, sollte zur Verfassung werden. Ich weiß nicht, ob das konsensfähig ist, aber Sie haben ja nach meiner persönlichen Meinung gefragt. Ich weiß nicht, ob es opportun wäre, hiermit Bestimmungen über Gewaltenteilung und Kompetenzabgrenzung zu verbinden. Wir sehen ja gerade, dass die Briten, die Väter des Verfassungsgedankens, jetzt gegen jede schriftliche Verfassung sind.