Jede Menge Pausen für die Netzhaut

■ Ab Donnerstag im 3001: Nach Psycho („Audition“) zeigt Takashi Miike mit Dead or Alive, dass er sich auch mit Pyro auskennt – und mit ganz anderen Geschwindigkeiten

Einträchtig sitzen Cop und Gangster am Wasser. Sie zählen. „One – one, two, three, four...“ Und mit rund hundert cuts per minute zündet Dead or Alive im Projektor. Ein Beginn wie ein Comicstrip, ein Clip. Ein Film mit Lichthupe auf der Überholspur. Gitarren kreischen zu flirrenden Bildern von stürzenden Körpern in Tokios Neonnacht. Zungenküsse und Strip-show, Yakuza und Triaden, rotlichtige Bars, schwuler Klosex, eine Nudelsuppe verlässt den Magen durch Einschusslöcher so schnell, wie sie zuvor reingeschlungen wurde, eine gut zwanzig Meter lange Kokslinie in eins weggesogen, Projektile aller Kaliber, pyrotechnischer Großeinsatz ...

Der Gedanke kommt auf, offenbar noch bei den Trailern zu sein, da glätten sich die Wellen, und fortan wird erstmal in ruhiger Bahn dahingeschippert. Die entpuppt sich bald als die viel befahrene Schiene: Cop und Gangster sind eigentlich Knüppel aus gleichem Holz. „Vorsprung durch Moral“ nennt sich die Illu-sion des Polizisten, der die Mickrigkeit seiner Lohntüte zu verdrängen sucht. Cop Jojima aber braucht viel Geld für die Operation seiner Tochter. Vielleicht eine eben solche Menge, wie sie der aufstrebende Gangster Ryuichi seinem kleinen Bruder fürs Studium in den USA gezahlt hat. Der kleine Bruder assistiert nun im riesigen Hörsaal einem Professor, der vor einer Handvoll Studenten die utopische Antwort des Marxismus beschwört.

Der Historische Materialismus hat noch immer etwas von Antagonismen zu erzählen ... Auch Dead or Alive hat seine Antagonismen. Darüber, ob Geld, das in die kritische Ausbildung der Familie inves-tiert wird, schmutzig sein darf, streitet der kleine Bruder mal mit Ryuichi. Oder: Wie dreckig darf das Geld für die OP deiner Tochter sein, wird Jojima vom Über-Ich gefragt. Der Polizeichef (Typ alter Weiser mit esoterischem Durchblick) immerhin weiß, dass das Böse an sich nicht schlecht ist. Die Balance sei wichtig ...

Bei aller gebotenen Eile – der Mann hat in den vergangenen zwei Jahren acht Filme abgedreht – bleiben Takashi Miike und Kameramann Yamamoto, der auch Hana-Bi von Takeshi Kitano fotografiert hat, meist lässig. Und da Geschwindigkeit relativ und Zeit subjektiv ist, werden auch narrative Muster und visuelle Tempi gewechselt. Vorm Finale, das die Rasanz vom Anfang wieder aufnimmt, dehnt sich die Zeit gemächlich aus, und wir dürfen die Protagonisten und Konflikte etwas näher kennen lernen.

Das gespannte, nervöse Warten auf Action in Audition wird hier nach der Startkracherei zur regenerativen Netzhautpause. Und solchermaßen gut erholt, empfängt uns Miike zum Ende mit einer ordentlichen Saalknallerei. Die haben wir schon filigraner choreografiert gesehen, macht aber nichts, denn das Finale, ein Italo-Wes-tern-Showdown mit modernem Equipment, kümmert sich nicht um Vergleiche.

Miike erklärt dazu mit Under-statement: „Da wir den Film im Sommer gedreht haben, sind unsere Köpfe ziemlich heiß geworden. Und da kommt man schon mal auf recht merkwürdige Ideen.“ Kein Problem, wenn der Arm mal wieder nervt, reiß ich ihn mir auch raus. Klar, nur im Sommer. Tim Gallwitz

tägl., 22.30 Uhr, 3001