Die Vorschau
: Glückliche Photos

■ Gülbahar Kültür liest am Freitag im Lagerhaus aus ihrem neuesten Gedichtband „Vermindert Schuldfähig“

Yesss! Das musste mal gesagt werden: „Lieber Zufall, / wir danken Dir, Ä...Ü daß kein Fernsehteam / einen Anlaß fand, / vor unserer Wohnung / live zu senden / und daß wir / in keiner Talkshow / auftreten mussten.“ Danke, lieber Zufall. Ein perfekter Tag, so. Nun ist die Lyrikerin Gülbahar Kültür, Jahrgang 1965, keineswegs eine Borderline-Exhibitionistin. Und wahrscheinlich wird sie nie in einer Talkshow zu sehen sein. Aber das macht nichts.

Sehen und hören kann man sie, wenn sie, die „zwischen den unbetonten / und betonten Silben / zweier Sprachen“ wohnt, „im Dachgeschoß / einer offenen Geschichte“, wenn sie Gedichte liest. Leise sind die und stammen aus den Jahren 1994 bis 2000. Zwischen Sprache und Leben, zwischen Wort und Wohnort versucht das lyrische, das schreibende Ich seinen Platz zu bestimmen. Es ist Suche nach Behaustheit, auch wenn diese, das lyrische Ich weiß es, bedroht ist. Immerhin ist es, wie der Titel des Gedichtes verrät: eine „Adresse“, somit einigermaßen greifbar.

Vermindert schuldfähig, also. Was mag das bedeuten? Man denkt an amerikanische Gerichtsfilme und daran, wie sich jemand möglichst günstig, will sagen: mit möglichst geringer Strafbemessung aus der Affäre ziehen will. Aber ich hatte doch ... Ich wollte doch nur ... Der in juristischer Formelhaftigkeit wie ein Fremdkörper daherkommende Titel irritiert. Will sich am Ende die Autorin gar für die soeben publizierten Verse entschuldigen, bei uns, die diese nun lesen müssen? Mitnichten!

„Verse entstehen, / die ausdrückliche Macht / über sie / habe ich nicht. / Irgendwo / bleibt immer / eine offene Wunde“, heißt es an einer Stelle. Jedes Leben, jede Erzählung davon – die Grenzen verschwimmen hier ein wenig – als Teil einer großen Geschichte, die man Schicksal nennen mag, die aber – darauf laufen viele Texte Kültürs hinaus – nicht vorgeschrieben ist, sondern immer neu und anders entsteht. Die Reise – „Buchstabentreu, / silbenreich; / wortswärts / durch die Träume“ – ist häufiges Motiv. Und das Erzählen. Kültürs Gedichte beharren darauf, dass Wahrnehmungen und Erinnerungen nur bis zu einem gewissen Grade teilbar sind. Alles ist eine Frage der Perspektive. Ein Leben als “Schwellenland zum Märchen“, wie es an einer Stelle heißt.

So wenig Leben und Erzählen ohne einander können, so schwer tun sie sich miteinander. „Glückliche Photos /.../ vermengte Schicksale / auf neunmal dreizehn.“ Und was man hört, ist stets nur die halbe Wahrheit.

Tim Schomacker

Gülbahar Kültür liest am Freitag ab 20 Uhr im Lagerhaus aus „Vermindert Schuldfähig“