Psyche aus Backstein

Banken filmen, Brücken bauen: Heinz Emigholz zeigt in „Photographie und jenseits“ (Forum), wie sich Ort und Gedanken in Bildern von Fragment und Serie verbinden

Ein Kopf, so groß wie ein Haus. Darin lauter Zimmer, aber keine Gedanken. Es ist ein schönes Bild, das der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz sich vorstellte, um die Ortlosigkeit des Denkens in einem seiner Briefe zu erklären. Der Filmemacher Heinz Emigholz geht den umgekehrten Weg: Er sieht eine Bank in Minnesota oder Iowa und kommt auf Gedanken. Die Bauten erinnern ihn an den Architekten, der sie entworfen hat. Der Baumeister war Louis H. Sullivan, und er schrieb 1906: „Alle Gebäude, die jemals waren und sind, sind das physische Symbol für den psychischen Zustand der Menschen . . .“ Wer also Sullivans Banken filmt, könnte ein Türchen finden in den Kopf des Architekten – und zum Lebensgefühl Amerikas kurz nach der damaligen Jahrhundertwende.

Emigholz ist vorsichtig ans Werk gegangen. Im März und April 1995 hat er acht Gebäude Sullivans aufgesucht und mit stehender Kamera aus verschiedenen Blickwinkeln gefilmt: Fassade, Ausschnitt, Dachwinkel, Interieur. Die strenge Form seiner dokumentarischen Aufnahmen, die hervorragend zu Emigholz’ Leitmotiv „Photographie und jenseits“ passen, ist wiederum abgestimmt auf Sullivans Motto „Form follows function“. Tatsächlich nutzt der deutsche Künstler die gefilmten Bilder nicht als Beleg für diese oder jene Gebäudearchitektur, sondern als Visualisierung der eigenen Ästhetik aus Fragment und Serie. Dabei kommt ihm die Hinterlassenschaft von Sullivan sehr entgegen: Selten hat man Häuser gesehen, die in einer solch schlichten Pracht und mit einer solchen Liebe zu teuren Materialien gebaut wurden. „Sullivans Banken“ sind der Triumph des Ornaments, „am abstraktesten Ort der Demokratie“, wie Emigholz mit einiger Bewunderung für die US-amerikanische Inszenierung des Kapitalismus feststellt.

Insofern ist es nicht erstaunlich, dass Emigholz in der Schweiz ein Pendant zu diesen Palästen gefunden hat. Dort gilt seine filmische Bestandsaufnahme „Maillarts Brücken“, die in den Dreißigerjahren gebaut wurden, um noch die schmalsten Pfade zwischen zwei Bergen zu verbinden. Dabei interessiert sich Emigholz für den Abgrund, an dessen Klippe die Bogenkonstruktion aus Stahlbeton immer wieder sanft anhebt, um sich gegen die Elemente zu stemmen. Der Übergang ist doppelt: einmal von Berg zu Berg, dann wieder von der zerklüfteten Natur ins gebaute Ebenmaß ihrer Beherrschung. Wieder sind es klare, detaillierte Einstellungen, mit denen Emigholz die Brücken im Film aus Fragmenten noch einmal zusammensetzt. Wunderbarerweise funktioniert die Rekonstruktion so ortlos wie das Denken, und, wenn man mit Deleuze so will, als Summe aller Zeitkristalle.

Zwischen den Banken und Brücken liegt allerdings ein dritter Film, den Emigholz ganz der eigenen Produktion gewidmet hat. „The basis of make-up (II)“ dauert 48 Minuten und ist eine Ansammlung von animierten Standbildern. Notizhefte, Skizzenbücher und Zeichnungen wechseln sich mit kurzen gefilmten Situationen in Ausstellungen von Emigholz ab. Man könnte es einen extrem unzugänglichen Loseblattcomic nennen oder die „Datenbank als Pausenfilm“. Emigholz mag den zweiten Begriff lieber, weil er die Paradoxie seiner Arbeitsweise ganz gut erfasst. Vielleicht ist es aber auch nur eine Brücke zwischen zwei Gedanken, über die man im Kino dann immerhin sehr lange nachdenken kann.

HARALD FRICKE

„Photographie und jenseits“, drei Filme von Heinz Emigholz; Deutschland, 110 Min.