Operation e-place

Die Hightechbranche macht Schluss mit der „Mein Büro – mein Schreibtisch – mein Vorzimmer“-Mentalität. Desk-Sharing heißt das Zauberwort. Die Kostenersparnis ist enorm. Aber auch der Widerstand vieler Mitarbeiter gegen die schöne neue Bürowelt

von NICOLE MASCHLER

Diether Godbersen ist der Typ Mitarbeiter, den sich Unternehmen wünschen: stets erreichbar, dynamisch, flexibel. Der studierte Mathematiker berät Kunden des Computerriesen IBM beim Kauf neuer Software und sorgt dafür, dass die Technik reibungslos funktioniert. Sein Arbeitsgebiet erstreckt sich von Rostock über Potsdam bis nach Fürstenwalde. Wann und wo er arbeitet, entscheidet Godbersen selbst – Notebook und Handy sei Dank.

Sein Büro am Berliner Ernst-Reuter-Platz sieht der Kundenberater nur noch, wenn er den Postkasten leeren muss – zweimal pro Woche im Schnitt. Dann holt er seine Arbeitsutensilien aus dem Wandschrank und sucht sich einen freien Platz im Großraumbüro. Dort steckt er sein Laptop in die Docking Station, ein Mausklick und er ist online in der IBM-Welt. Die dreißig Schreibtische sind Gemeingut, das bei Dienstbeginn jungfräulich angetroffen und nach der Arbeit ebenso verlassen wird. Keine Blumen, keine Aktenhaufen, einziger Farbtupfer ist ein Gummibaum. „Ich muss keine Fotos aufstellen, um mich wohlzufühlen“, sagt Godbersen. Er ist ein Desk-Sharer, wie die Pultteiler neudeutsch heißen.

240.000 Mitarbeiter hat IBM weltweit. „Deswegen“, so die Devise von Deutschland-Chef Erwin Staudt, „brauchen wir eine Kultur, die Standards setzt.“ Über dreitausend Mitarbeiter aus Vertrieb und Außendienst müssen in der Stuttgarter Zentrale bis Mitte des Jahres ihren persönlichen Schreibtisch räumen. Zehntausend Quadratmeter Bürofläche sind schon umgestaltet, vierzigtausend sollen es werden. Auch in den Geschäftsstellen in Freiburg, Kassel, Saarbrücken und Bielefeld wird Desk-Sharing eingeführt. Die Zielmarke lautet fünf zu drei – fünf Mitarbeiter, drei Schreibtische. Operation „e-place“.

Mit dem neuen Arbeitskonzept will der Konzern einen Schlussstrich unter die „Mein Büro – mein Schreibtisch –mein Vorzimmer“-Mentalität ziehen. Doch es geht nicht nur ums Betriebsklima, sondern auch um Betriebszahlen. Studien haben gezeigt, dass jeder zweite Arbeitsplatz über längere Zeit unbesetzt bleibt, weil sich die Kollegen in Konferenzräumen treffen. Durch Desk-Sharing lassen sich Büroflächen und Equipment reduzieren. Kostenersparnis pro Kopf und Jahr: bis zu viertausend Mark.

„Mit starren Zellenbüros lässt sich das heutige Arbeiten nicht mehr abbilden“, glaubt Unternehmensberaterin Inka Rimpler. Beim Computerunternehmen Digital, für das sie bis vor zwei Jahren arbeitete, hat Rimpler den „dramatischen“ Abschied vom Zweierbüro begleitet. Desk-Sharing ist das Modell der Zukunft, erkannte die Organisationspsychologin und baute mit acht Innenarchitekten und Psychologen das Netzwerk „Newwork Consulting“ auf. Heute ist Rimpler selbst Mobilworker – mit wechselndem Arbeitsplatz in Bremen, Frankfurt oder Zürich.

Noch sind es vor allem Informatik- und Computerunternehmen, die neue Bürowelten entstehen lassen. Hier besitzen ohnehin alle ein Notebook, weltweite Vernetzung ist in der Branche mehr als ein Schlagwort. „Im IT-Bereich liegt das Mitarbeiterwachstum bei fünfzehn bis zwanzig Prozent“, sagt Inka Rimpler. Interessant sei das Modell auch für Start-up-Firmen, die heute noch nicht wissen, wie viele Mitarbeiter sie morgen beschäftigen. Die Unternehmensberaterin ist sicher: „Desk-Sharing ist überall möglich, wo Flexibilität gefragt ist.“

IBM zettelte die Bürorevolution von oben nicht an, ohne vorher einen Warnschuss abzugeben. Arbeitspsychologe Wilhelm Glaser von der Universität Tübingen hat die Pilotphase begleitet. Die Angst vieler Mitarbeiter vor Isolation, so sein Fazit, war unbegründet. „Viele empfanden es als Befreiung, dass sie nicht mehr die ganze Woche im Büro verbringen mussten.“ Der Professor spricht aus Erfahrung. Seinen Schreibtisch an der Uni hat er leer geräumt. Assistenten und Diplomanden besitzen einen Schlüssel zum Büro. „Ich brauche zwei Tage pro Woche, an denen ich zu Hause arbeite.“ Und die Mitarbeiter seien froh, ihrem Chef nicht ständig über den Weg zu laufen.

Auch IBM machte vor der „Bel Etage“ nicht Halt, dem Refugium der Geschäftsführung. Vorbei die Zeiten, als Palisanderbüros mit dickem Teppich und Vorzimmerdame die Gehaltsgruppe verrieten. Statussymbole, so scheint es, haben bei den Unternehmen der Zukunft ausgedient. Der progressive Chef setzt auf Offenheit, bei der Büroausstattung und im Umgang mit Mitarbeitern. Schließlich erprobt man nicht nur ein neues Arbeitsmodell, sondern demonstriert auch eine Haltung: der Boss als Partner, der sich mit den Untergebenen den Schreibtisch teilt. Vertrauen und Verantwortung statt Aufsicht und Anweisungen. Per Betriebsvereinbarung hat sich IBM verpflichtet, die Log-on-Zeit der Computer nicht zu überprüfen. Keine Stechuhr, keine Anwesenheitskontrolle, selbst bei der Abrechnung von Überstunden haben Mitarbeiter freie Hand. IBM hat aus der Not eine Tugend gemacht. Nicht nur für die Abteilung Produktliteratur gestaltete sich die Kooperation mit dem Stammhaus früher schwierig – begann doch in den USA der Arbeitstag erst, wenn die Stuttgarter bereits dem Feierabend entgegensahen. Heute kommen die Deutschen erst gegen Mittag. Starre Arbeitszeiten gehören der Vergangenheit an.

Aber der Büroaufstand ist nicht ohne Blessuren über die Bühne gegangen: Der Verlust alter Privilegien kratzte am Selbstverständnis der Führungskräfte. „Das Unternehmen lässt sich nicht mehr nach alter Vätersitte führen“, glaubt Projektleiter Werner Zorn, der den Widerstand aus der Vorstandsetage zu spüren bekam. Dabei überwiegen zumindest aus Sicht des Arbeitspsychologen die Vorteile: „Je mehr Vorgaben ein Chef macht, desto mehr Probleme treten auch auf“, weiß Telearbeitsexperte Wilhelm Glaser. „Gute Führung besteht eher in weniger Kommunikation.“ Das würde Diether Godbersen sicher bestätigen. Sein Chef sitzt am anderen Ende der Republik, in Köln. Einmal pro Woche verabreden sie sich mit den Teamkollegen aus Hamburg, Hannover und Nürnberg zur Besprechung – per Telefonschalte.

Auf die Bedürfnisse des Markts reagieren – mit flachen Hierarchien, flexiblen Arbeitszeiten und Raum für Kreativität. „Die Angestellten müssen ein neues Verhältnis zu ihrem Job entwickeln“, sagt IBM-Projektleiter Werner Zorn. Eigenverantwortung lautet die Devise. Der Arbeitnehmer als „Entrepreneur“.

Doch mit der neuen Freiheit kommen nicht alle Angestellten zurecht. Beim Konkurrenten Digital, der inzwischen mit Compaq fusioniert hat, ist der Kulturwandel alles andere als konfliktfrei verlaufen. Vor drei Jahren bekamen die Außendienstler tragbare Computer und Mobiltelefone in die Hand gedrückt, um ihre Arbeit künftig ohne festen Schreibtisch zu erledigen. In der Schweizer Niederlassung, wo es seither anonyme Stehpulte für den kurzen Zwischenstopp beim Chef gibt, quittierten daraufhin neun Mobilarbeiter den Dienst. In München hat die neue Compaq-Führung daher die Notbremse gezogen. Während im Business-Center bis vor kurzem sechzig Kundenberater an dem Modell teilnahmen, sagt Firmensprecher Herbert Wenk, sind es heute nur noch halb so viele.

Die Belegschaft muss sich die neue Beweglichkeit erst mühsam antrainieren. In Selbsthilfekursen zeigt Unternehmensberaterin Rimpler verunsicherten Mitarbeitern daher, wie sie Papierberge künftig vermeiden. Das Lernziel: „Möglichst viel elektronisch unterbringen.“ Allerdings: „Die Leute brauchen Zeit, um sich an die neue Arbeitssituation zu gewöhnen.“

Resistenz auch am Berliner Ernst-Reuter-Platz. Diether Godbersens Kollege hat seinen Schreibtisch und ein halbhohes Aktenregal erfolgreich in die neue Zeit gerettet. Warum er sein Pult nicht aufgeben mag? „Ich will es halt nicht“, kommt trotzig die Antwort. Vielleicht ist es einfach die Sorge, mit dem Schreibtisch ein Stück Geborgenheit zu verlieren.

„Anstatt die Menschen zur Arbeit, bringen wir die Arbeit zu den Menschen.“ Mit Sätzen wie diesen will IBM der Belegschaft das temporäre Pult schmackhaft machen. Da ein Unternehmen aber kein Wohlfahrtsverein ist, hat die Rücksicht auf die Befindlichkeit der Mitarbeiter Grenzen. „IBM sagt inzwischen deutlich, wenn ihr bestimmte Jobs machen wollt, müsst ihr Desk-Sharing akzeptieren“, sagt Arbeitspsychologe Glaser. Wer sich in der Hightechwelt nicht zurecht findet, hat eben den falschen Job. Heimat ist anderswo.

NICOLE MASCHLER, 28, ist Redakteurin im Inlandsressort der taz