: Der Draht zur Welt
Das Bildungssystem Indiens sorgt zwar für Spitzenkräfte in der Computerindustrie – Exporte von Software machen mehr als 10 Prozent des Außenhandels aus. Doch in der Breite scheitert es hoffnungslos. Von den 130 Millionen Kindern, denen weltweit jegliche Schulbildung versagt bleibt, leben 40 Millionen auf dem Subkontinent. Investitionen in anderen Bereichen sind der Regierung offenbar wichtiger: Sie gibt fast doppelt so viel Geld für Waffen aus.
Kürzlich sorgte der indische Telekommunikationsminister Ram Vilas Paswan mit seinem Vorschlag für Diskussionsstoff, in jedem der rund 640.000 Dörfer und Gemeinden des Landes, wo fast 80 Prozent der Gesamtbevölkerung lebt, einen „Internet-Imbiss“ zu eröffnen. „Wir brauchen das globale Dorf“, glaubt auch Premierminister Atal Bihari Vajpayee. „Doch wie erklärt man das Internet in einem Land, wo Menschen als alphabetisiert gelten, sobald sie ihren Namen schreiben können?“, stichelte das Wochenmagazin India Today. Offiziell ist nur die Hälfte der Bevölkerung Indiens des Lesens und Schreibens mächtig. Mehr als 300 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze.
Die Kosten für technische Geräte sind darüberhinaus unverhältnismäßig hoch: So ist der Preis eines Internet-Modems in Indien beinahe viermal so hoch wie in den USA. Bislang blieb der erwartete – und ersehnte – Internet-Boom daher aus. Nur 3,7 Millionen Inder, 0,37 Prozent der Bevölkerung, haben Zugang zum Internet, lediglich 1,5 Millionen besitzen eine eigene Surfgelegenheit. Net Satyam Infoway, die Internet-Tochter der indischen Satyam Computer Services Limited, avancierte im vergangenen Jahr mit 200.000 Netzkunden zum zweitgrößten Service-Provider hinter dem staatlichen Unternehmen VSNL, das weit über 300.000 User versorgt.
Die Vermögensschere zwischen denen, die das Netz und seine Vorzüge wahrnehmen können, und dem gigantischen Rest des Menschendickichts geht indes immer weiter auseinander. Geplant ist daher, den Internet-Markt mit Hilfe des Kabelfernsehens auszuweiten – etwa 40 Millionen Fernsehgeräte mit Kabelanschluss sind bereits vorhanden.
Die Umsetzung schnellerer Technologien, wie Breitband und Glasfaser, werde, so der Vorsitzende von Pacific Internet India (etwa 150.000 Nutzer), Mohana Pillai, zu einer Konzentration auf dem Markt der Internet-Provider führen. Lediglich vier oder fünf landesweit operierende Unternehmen würden übrig bleiben, glaubt er. Zurzeit sind es noch über einhundert. Zudem soll der Gebrauch von Video- und Voice-E-Mails vorangetrieben werden, die auch Analphabeten nutzen könnten. Das Senden oder Empfangen einer dreiminütigen Mail kostet jeden User allerdings 15 Rupien, rund 75 Pfennig, was dem halben Tageslohn vieler Dorfbewohner entspricht. Dennoch verspricht man sich ein rege Nutzung, da viele Angehörige in den Städten arbeiten und ihre Familien höchstens einmal im Jahr besuchen können.
Zumindest in den größeren Städten kombiniert man bereits vereinzelt Religion und Technik: Der Hindu-Gott Ganesh steht für den Neuanfang, beseitigt Hindernisse und gilt als Schirmherr der Schreiber. So werden goldverzierte Statuen angeboten, die Ganesh in Arbeitspose am Computer zeigen. Eine Illustration in India Today weist derweil auf die Realität hin: Ein Slumbewohner mit nacktem Oberkörper und einem Stück Wellblechdach um den Beinen beißt ratlos in eine CD-ROM. Sein Gehirn hat sich zu einem Fragezeichen verformt.
OLIVER LÜCK
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