„Ich will jemand sein!“

In den blutenden Gesichtern junger Wrestlerinnen zeigt „Gaea Girls“ (Panorama) die ganze Vergeblichkeit ihres Kampfes um Anerkennung in der japanischen Gesellschaft

von ANDREAS BUSCHE

Wer jemals die Gelegenheit gehabt hat, einen Blick auf die japanische Gameshow-Kultur zu werfen, stieß im vermeintlich leichten Unterhaltungssektor auf die extremsten Auswüchse eines gesellschaftlichen Selbstzerstörungstriebs. Die derzeitige Krise der japanischen Kultur, aufgerieben zwischen einem längst überholten hierarchischen Gesellschaftsmodell und dem daraus resultierenden Leistungssystem, dessen ökonomischer Motor die Missstände und Gewaltverhältnisse lange Zeit automatisch weiter reproduzierte, findet seine wahrscheinlich stärksten Bilder in den brutalen Showspektakeln im japanischen Fernsehen. Die sozialen Entgleisungen werden im lockeren Prime-Time-Entertainmentformat konsumierbar gemacht; gleichzeitig statuieren sie das Image eines perfekten Modellbürgers, der selbst unter größten Schmerzen noch die Bereitschaft zeigt, alles zu geben.

Je evidenter jedoch in den letzten zwei Jahren die japanische Wirtschaftskrise wurde, desto konfuser reagierten auch die alten Hierarchien auf die Umwälzungen, die das fixe Gesellschaftsgefüge langsam aus der Balance brachten. Nicht nur die wirtschaftlichen Eliten mussten sich den neuen Anforderungen stellen, auch die Geschlechterverhältnisse waren im patriachalisch geführten Japan plötzlich grundlegenden Wandlungen unterzogen, auf die die Betroffenen erst mal mit Unsicherheit reagierten.

Kim Longinottos und Jano Williams’ Dokumentation „Gaea Girls“ schildert eindrucksvoll die verzweifelten Versuche, sich mit diesem neuen Umstand einer vorgeblichen Freiheit bestmöglich zu arrangieren. „Ich werde nicht einfach in der Menge abtauchen“, erzählt die junge Gaea-Wrestlerin Takeuchi am Anfang des Films, „Ich möchte jemand sein!“ Später sieht man sie im Ring am Boden liegen, während ihr Kopf von den Tritten ihrer Gegnerin malträtiert wird. Wie nah Longinotto und Williams in diesen Schlüsselmomenten an die Mädchen herankommen, ist das eigentlich Sensationelle an „Gaea Girls“. Wie unerbittlich sie dabei die Kamera auf die mit unglaublicher Brutalität ausgetragenen Kämpfe richten und dem Zuschauer keine Schutzmöglichkeiten lassen, ist dagegen das wirklich Erschütternde.

In den aufgequollenen, blutenden und tränenüberströmten Gesichtern der Mädchen zeigt sich die ganze Vergeblichkeit ihres Kampfs um Anerkennung und Selbstbestätigung. Der Traum, aus der Masse herauszutreten und (als Mädchen) die Achtung der Gesellschaft zu erlangen, führt über einen Parcours aus kräftezehrenden Ertüchtigungsübungen und blutigen In-Fights direkt in die psychische und physische Demontage.

Die Macht- und Kräfteverhältnisse im Trainingscamp von Nagayo Chigusa funktionieren nach den Mechanismen eines japanischen Wirtschaftskonzerns. In einer Welt, die von Männern dominiert wird, kann die weibliche Emanzipation in letzter Konsequenz wieder nur nach den patriachalischen Regeln funktionieren. Chigusa, in ihrer Rolle zwischen zärtlicher Mutter und erbarmungslosem drill instructor, erzählt in familiärem Plauderton, dass ihre rücksichtslosen Erziehungsmethoden erst gefruchtet haben, wenn in den Köpfen der Mädchen der Gedanke Form annimmt, ihre Trainerin am liebsten umbringen zu wollen – so habe es ihr Vater mit ihr selbst früher gemacht.

Ihre Liebe zu den Mädchen – „ihren Mädchen“, wie sie sagt – drückt sich in schier endlosen Fausthieben aus. Die Mädchen wiederum müssen – selbst im Sparring – mit aller Härte gegen ihre Freundinnen/Gegnerinnen vorgehen, um ihrer „Mutter“ Respekt zu erweisen. Takashi Miike bringt in seinem Film „Audition“ den derzeitigen Zustand der Geschlechterverhältnisse und damit seines Landes mit dem Satz „Japan is finished“ auf den schmerzhaften Punkt. „Gaea Girls“ bestätigt dieses Gefühl von Taubheit mit schonungslosen Bildern.

„Gaea Girls“. Regie: Kim Longinotto und Jano Williams, GB, 106 Min.