„Da schaudert es mich“

Volkmar Schneider, Leiter des gerichtsmedizinischen Institutes an der Freien Universität, vermisst bei den „Körperwelten“ die Achtung vor dem Tod und der Leiche. Sie sei ein Zeichen für wachsenden Voyeurismus

taz: Herr Schneider, Sie sehen jeden Tag Leichen. Werden Sie die „Körperwelten“-Ausstellung besuchen?

Volkmar Schneider: Ich habe Teile der Ausstellung vor einem Jahr im Kronprinzenpalais gesehen. Ich habe keine Veranlassung, noch mal zu gehen.

Was halten Sie von der Ausstellung?

Da werden mehr als 200 menschliche Plastinate gezeigt. Ich erinnere mich an eines, da war ein Mann zu sehen, völlig enthäutet, der seine eigene Haut wie einen Trenchcoat über den angewinkelten Arm getragen hatte. Da kamen mir schreckliche Assoziationen.

Welche?

Vor ein paar Jahren musste ich prüfen, ob ein Lampenschirm womöglich aus der Haut eines KZ-Opfers bestand. Das war nicht der Fall. Aber bei so einer Ausstellung habe ich solche Gedanken. Da schaudert’s mich. Auch wenn da eine schwangere Frau oder eine Leiche beim Schachspiel gezeigt wird: Da ist für mich eine Grenze überschritten.

Warum lässt Sie das erschaudern?

Ich bin schon seit 34 Jahren Rechtsmediziner und habe viele Tausend Obduktionen vorgenommen. Bei der Ausstellung fehlt mir jedoch die Achtung vor dem Tod und vor der Leiche.

Einige der Ausstellungsbesucher wollen, dass ihr Körper nach ihrem Tod durch von Hagens präpariert wird.

Heute stellt man ja vieles zur Schau, im Fernsehen zeigen manche alles, auch das, was zu ihrem Eigensten gehört. Und die Gesellschaft wird immer voyeuristischer. Die „Körperwelten“-Ausstellung ist ein Zeichen dafür.

Die Ausstellungsmacher bezeichnen ihre Arbeit als Aufklärung über den menschlichen Körper für Laien.

Wissen Sie, es gibt Bestrebungen, die ich jedoch nicht teile, in der Ausbildung von Ärzten die Anatomie abzuschaffen, da Präparate nicht mehr die Bedeutung haben wie früher. Heute können wir durch moderne Computertechnik sogar Einblicke in den lebenden Körper gewähren.

Aber nicht für Laien.

Über das Argument Aufklärung kann man sehr streiten, wenn eine Gruppe 13-jähriger Mädchen durch die Ausstellung geführt wird. Außerdem tut man denen doch womöglich damit auch etwas Schlimmes an. Der Zustand einer Gesellschaft ist daran zu messen, wie sie mit ihren Sterbenden und ihren Toten umgeht. Da ist vieles im Argen.

Auch die viel gelobte Ausstellung „Theatrum naturae et artis“ im Gropius-Bau zeigt eine präparierte Leiche in einem rekonstruierten pathologischen Theater.

Das sind historische Präparate einer Zeit, als die Obduktion für viele etwas Neues war. Die Medizin brauchte diese Entwicklungsphase. Später aber war viel Sensationsgier dabei. Vor 100 Jahren noch gab es in Berlin ein zentrales Leichenschauhaus, wo alle unbekannten Toten aufgebahrt lagen und jeder hineingehen konnte. Es gab Leute, die extra deshalb nach Berlin gekommen sind. Wegen des Nervenkitzels. Deshalb kommen die Leute auch heute zur „Körperwelten“-Ausstellung. Dass so viele kommen, ist kein Gegenargument. Wenn man heute eine öffentliche Hinrichtung auf dem Alex machen würde, kämen auch Tausende. Doch deshalb wird das nicht ethisch vertretbar.

Werden Sie Ihren Körper nach Ihrem Tod der Wissenschaft zur Verfügung stellen?

Eine klinische Obduktion ist ein wertvolles Instrument in der Ausbildung von Ärzten und für die Qualitätskontrolle in Kliniken. Wenn ich mit einer Krankheit in ein Krankenhaus gebracht würde und sollte unterschreiben, dass ich beim Ableben auch obduziert werden könnte, würde ich das tun. Aber Studenten würde ich nicht unbedingt zur Verfügung stehen wollen. Bei einer gerichtlichen Obduktion liegt das überhaupt nicht mehr in meiner Macht. INTERVIEW: PHILIPP GESSLER