DEUTSCHLAND AUF DEM WEG ZU EINEM REVISIONISTISCHEN GESCHICHTSBILD
: Im Rückwärtsgang

Ein bislang weithin unbekannter CDU-Abgeordneter will gemeinsam mit einem Kollegen von der CSU einen neuen Anlauf nehmen, um die Wandkritzeleien russischer Soldaten im Reichstagsgebäude doch noch übermalen zu lassen. Das ist für sich genommen nicht weiter erstaunlich. Die Union mag Graffiti halt nicht, ganz unabhängig von ihrem historischen oder künstlerischen Wert.

Es ist auch völlig legitim, den Palast der Republik scheußlich zu finden und das Stadtschloss von Berlin schön. (Ob man dessen Wiederaufbau deshalb gleich für den Höhepunkt zukunftweisender Stadtplanung halten muss, steht auf einem anderen Blatt.) Der Wunsch der deutschen Wirtschaft, ehemalige Zwangsarbeiter erst im Falle der Rechtssicherheit zu entschädigen, ist überaus nachvollziehbar. Möglicherweise lassen sich sogar gute Gründe dafür finden, dem US-Autor Norman Finkelstein und seiner These zuzujubeln, die Juden nutzten die Erinnerung an die Konzentrationslager in erpresserischer Weise.

Durchaus verständlich ist auch der Wunsch der deutschen Mehrheit nach Gleichberechtigung innerhalb der Nato und die Bereitschaft der politischen Klasse, die sich daraus ergebenden Verpflichtungen hinsichtlich der Fähigkeit zur so genannten Krisenintervention anzuerkennen. Diese über (fast) alle Parteigrenzen hinwegreichende Bereitschaft wurde gestern in der Bundestagsdebatte, in der es um die Zukunft der Streitkräfte ging, ein weiteres Mal deutlich gemacht.

Auf den ersten Blick scheinen viele der Themen, die gegenwärtig hier zu Lande diskutiert werden, wenig oder nichts miteinander gemein zu haben. Das Für und Wider der unterschiedlichen Ansichten lässt sich, ohne Zorn und Eifer, im Zusammenhang mit jeder einzelnen Frage nüchtern erörtern. Übrigens nehmen dabei keineswegs stets die üblichen Verdächtigen ihre jeweils vorhersehbaren Positionen ein. Im Gegenteil: Es ist durchaus möglich, sich gleichzeitig für die Erhaltung der Reichstagsgraffiti und den Wiederaufbau des Stadtschlosses einzusetzen.

Diese scheinbare Vielfalt der Meinungen ist eine Nebelkerze auf dem Weg, der in den letzten Jahren beschritten worden ist: hin zu einem revisionistischen Geschichtsbild. Endlich möchten wir uns wieder das aus unserer Vergangenheit heraussuchen dürfen, was uns gut gefällt, und alles andere in Rumpelkammern verstecken. Gerne erinnern wir uns an die vermeintlichen preußischen Tugenden, während mit dem Bau des geplanten Mahnmals für die ermordeten Juden leider noch immer nicht begonnen werden konnte. Zufall? Um das zu glauben, bedarf es eines beneidenswerten Maßes an Gutgläubigkeit. BETTINA GAUS