Wenn der Entscheider kommt

Quo vadis, Dezisionist? Urs Stäheli versucht sich an einer Theorie des Politischen. Dazu schleust er einen poststrukturalistischen Gast in die Systemtheorie Niklas Luhmanns ein. Politik trifft in dieser Lesart Entscheidungen in unentscheidbaren Situationen

von INGO STÖCKMANN

Theorien haben ihre Zeit und ihre Generationen. Dass die Systemtheorie Niklas Luhmanns sperrig ist, urdeutsch und von bedenklicher Kälte den Subjekten gegenüber, ist bekannt. Klagen dieser Art haben die Theorie von Beginn an begleitet, und auch eine inzwischen drei Jahrzehnte umfassende Rezeptionsgeschichte konnte das Geröll an Vorbehalten nicht beseitigen.

Luhmann selbst hat diese Missverständnisse, auch die mutwilligen, zeitlebens mit milder Nachsicht behandelt. Darüber hinaus hat er auf die Kraft des Arguments gesetzt und insbesondere die Gesprächsfähigkeit der Systemtheorie mit konkurrierenden Theorieunternehmungen betont. In den Siebzigerjahren hat dies bekanntlich kein Geringerer als Jürgen Habermas zu spüren bekommen. Gegenwärtig geht es freilich nicht mehr um die Frage, ob die Systemtheorie eine unkritische „Sozialtechnologie“ sei, die am verhängnisvoll falschen Bewusstsein mitarbeite. Statt dessen strickt die next generation an aktuelleren Fusionsplänen. Systemtheorie und Dekonstruktivismus, Luhmann und Derrida werden auf ihre wechselseitige Erhellung befragt.

Nun ist die Liaison von Bielefelder Beobachtungstheorie und Pariser Poststrukturalismus nichts, was zu den Urszenen systemtheoretischer Theorieerotik zählen würde. Die Luhmann-Rezeption der ersten Stunden hat sich bekanntlich und nicht ohne eine gewisse Selbstgenügsamkeit in den Schneisen der modernen Funktionsdifferenzierung eingerichtet – was vor allem bedeutete, dass auf den Flügeln eines regen systemtheoretischen Deklinationsbetriebs nun denkbar alles die Gnaden des Systems empfangen konnte: Literatur wie Theater, Familie wie Psychotherapie, Geldverkehr wie Leibesübung.

Diese Stromlinienförmigkeit der Rezeption hat nun ein Ende. Man entdeckt, was nur derjenige sieht, der Luhmann gegen den Strich zu lesen bereit ist. In den Blick geraten die autoritären Ansprüche der Theorie, die hinter ihrer supertheoretischen Machart hegemoniale Übernahmefantasien verbirgt; die weltgeistigen und verdächtig hegelianischen Systemzwänge, die alles begradigen, was sich dem Funktionalismus der Systeme eigentlich versperrt; nicht zuletzt ihr unkritischer und gerade in Fragen der Macht so unaufgeregter Gestus.

Parasitäre Lektüre

Diese dekonstruktivistischen Überschüsse in der Systemtheorie möchte Urs Stäheli nun fruchtbar machen; der junge Schweizer Philosoph sieht hier Chancen für eine aktuelle Theorie des Politischen. Gleichwohl: Stäheli geht es in seiner Untersuchung „Sinnzusammenbrüche“ weder darum, die Gemeinsamkeiten beider Theoriekulturen bloß aufzuzählen, als da wären: Umstellen von Einheit auf Differenz, Distanz zu allen universalen Geschichtsnarrationen, Letztbegründungen durch Paradoxien. Noch möchte er das bekannte „hegemoniale Prinzip“ der Systemtheorie fortschreiben, indem das Andere der Dekonstruktion als das Eigene assimiliert wird. Nicht zuletzt soll die selbst gewählte Rekonstruktionsperspektive vermeiden, „einen Dialog zwischen beiden Lagern zu eröffnen“, der lediglich ein „beide Theorien umfassendes Fundierungsproblem konstruiert“. Stattdessen, so Stäheli, muss einer „parasitären Lektürestrategie“ gefolgt werden, die den Gast der Dekonstruktion im Haus der Systemtheorie heimisch macht, um diesem Gastgeber nun vorzuführen, was er in seiner Liebe zu einem reibungslosen Systemfunktionalismus gewöhnlich zu übersehen geneigt ist.

Damit sind, so darf man Stähelis nicht allzu konsumfähige Drahtseilakte zwischen Dekonstruktion und Systemtheorie referieren, jene Situationen in der sozialen Kommunikation gemeint, in denen „Entscheidungen in antagonistischer Weise“ getroffen werden müssen, obwohl diese Entscheidungen paradoxerweise gerade in Unentscheidbarkeitslagen auflaufen. Diese Paradoxie entschiedener Unentscheidbarkeit darf nun, laut Stäheli, Politik heißen: „Das Politische“, so Stäheli, „ist das Treffen einer Entscheidung in einer unentscheidbaren Situation.“ Das besitzt Carl Schmitt’sche Prägnanz und Eindeutigkeit, ist jedoch genau besehen alles andere als eindeutig, weil eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten eröffnet wird, die durch die gewählte Entscheidungstheorie gerade nicht kontrollierbar sind. Was sich in so abstrakter Weise als politisch versteht, muss sprichwörtlich mit allem rechnen.

Nimmt man das Politische jedenfalls in diesem Sinne ernst, dann wächst ihm ein wohl kaum beabsichtigter nomadischer Charakter zu. Sobald Entscheidungen, auch und gerade in Situationen möglicher Unentscheidbarkeit, überall und nirgends auftauchen, beginnt das Politische die Gesellschaft zu durchqueren, wie Nomaden die Wüste durchwandern. Die Entscheidungen der Hausfrau (oder des Hausmannes), welches Mittagsmahl die Lieben erwarten wird, sind dann ebenso politisch wie die Entscheidungen angehender Studenten über ihre Studienfächer. Denn der Horizont der Entscheidung – die Zukunft – bleibt im Moment der Selbstfestlegung denkbar unbestimmt.

Überhaupt könnte sich eine ganze 68er-Generation hier wiederfinden, der eben auch alles als politisch galt. Ein Begriff des Politischen jedenfalls, der „nicht an ein bestimmtes System gebunden“ ist und damit jenseits des Systems der Politik gedacht wird, beginnt überall dort seine Präsenz zu erweisen, wo immer sich Entscheidungen an sich selbst begründen müssen. Das ist in seiner abstrakten Offenherzigkeit dem Begriff des Politischen gegenüber absichtsvoll poststrukturalistisch und kaum noch systemtheoretisch gedacht.

In diese Absicht strömt freilich auch ein, was vermutlich nicht einströmen soll. Denn Entscheidungen treffen nicht nur Demokraten, die sich der kontrollierenden Macht mehrheitsförmiger und gewaltfreier Meinungsfindung unterwerfen, sondern „Entscheider“ und Dezisionisten ganz anderen Kalibers. Schon 1932 hatte Carl Schmitt unter dem Dach des Politischen eine Theorie der Dezision heimisch gemacht, die in der Entscheidung, politische Widersprüche zur äußersten Intensität zu steigern, die Legitimität zur souveränen Tat sah.

Stähelis „Theorie der Entscheidung“ kann diese Nähe zu Schmitt, überhaupt zu Radikalismen nicht vermeiden. Schließlich garantiert weder ein gütiger Gott noch ein friedvoller Systemtheoretiker, dass Entscheidungen immer schon demokratische oder zumindest demokratiefreundliche Entscheidungen sind, denen ein geduldiger Prozess des Interessenausgleichs vorausgegangen ist.

Und so findet in dieser „Theorie der Entscheidung“ auch seinen Platz, was ein Außenminister gegenwärtig der bundesrepublikanischen Geschichte als ihr (wenn auch vergangenes) Eigenstes in Erinnerung ruft: eine Politik der Entscheidung, die sich im „antagonistischen“ Gegensatz zwischen Staatsmacht und Spontis auf die Seite des gewaltbereiten Kampfes schlagen musste, weil die Intensität der politischen Auseinandersetzung eine Entscheidung erzwang.

Blühende Spontipoesie

Zweierlei wird hieran sichtbar: Zum einen, dass die aktuellen Debatten gut daran tun, wenn sie juristische Sachverhalte von ihrer immer auch denkbaren Moralisierung möglichst freihalten; zum anderen, dass die aktuelle Spontipoesie, die in den Debatten auftritt wie eine neuerlich erblühte Diva, eigentlich ein auf links gewendeter Schmittianismus ist. Radikale politische Positionen neigen jedenfalls in gewisser Hinsicht dazu, die Unterscheidung von links und rechts zu einer sekundären Unterscheidung zu machen. Denn Radikalisierungen benötigen zunächst nur eines: die ebenso pathetische wie aktivistische Entscheidung zur Bereitschaft. Bis zur „Tat“ ist es dann nicht mehr weit.

Andererseits: Stähelis Theorie der Entscheidung scheint bei allen erkenntnistheoretischen Kapriolen lediglich nachzubuchstabieren, was die Politik immer schon weiß. Denn Unentscheidbarkeitslagen mit dem paradoxen Zwang, doch entscheiden zu müssen, sind weniger ein bedrängendes Theorieproblem als politisches Tagesgeschäft: Fragen, die jetzt (noch) nicht entschieden werden können, müssen lediglich verzeitlicht werden, um die Fiktion einer handlungsoffenen Zukunft zu simulieren.

Die Politik benötigt geradezu solche Unterbestimmtheiten, um Wählern in der Zukunft in Aussicht zu stellen, was die Regierung gegenwärtig versäumt: die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die sozialverträgliche Abwicklung von Bundeswehrstandorten, die Sicherung des Verbraucherschutzes etwa. Über all dem ließe sich beinahe eine politische Anthropologie errichten: Der politische Visionär und Utopist ist ohne Unentscheidbarkeitssituationen kaum zu denken, wie sich der Realo gerade durch schnelles Handeln und Entscheidungsbereitschaft auszeichnet.

Auch der von Stäheli notierte Zwang zur „Selbstbegründung“ von Entscheidungen, der die Möglichkeiten des Handelns und Entscheidens weniger vorfindet als allererst produziert, entspricht dem politischen Know-how nicht erst einer dekonstruktivistischen Postmoderne: Politische Entscheidungen kommen in die Welt, indem sie als Fiktion von Konsequenzen aus Sachanalysen heraus entwickelt werden, die ihrerseits Ursachen und Wirkungen aufeinander zurechnen.

So entsteht das Bild einer Politik, die ihren Beobachtern motivierte Handlungsketten vorführt, indem kontingente Entscheidungen zugleich Spielräume für Anschlussentscheidungen produzieren. Die „Politik der Entparadoxierung“ von Entscheidbarkeit und Unentscheidbarkeit ist damit, so steht zu vermuten, kaum mehr als der Alltag des Politischen selbst.

Urs Stäheli: „Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie“. Velbrück Verlag, Weilerswist 2000, 340 Seiten, 69 DM