Wenn der Islam Ressource wird

Mit der rechtlichen Gleichstellung der Muslime wird auch verhandelt, was Religion zum Zusammmenhalt einer sozial ungerechten Gesellschaft beiträgt

von EBERHARD SEIDEL

Vor 20 Jahren lebten in den Staaten der EU 4 Millionen Muslime. Heute sind es auf Grund der Zuwanderung aus der islamischen Welt bereits 15 Millionen. Wie also muss eine Politik der rechtlichen Gleichstellung aussehen, die nicht nur den Bedürfnissen der Mehrheitsgesellschaften gerecht wird, sondern auch denen der Muslime? Dieser Frage widmete sich am Wochenende die Tagung „Muslime in Europa – Ein Ländervergleich“, die die Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit der Katholischen Akademie in Berlin veranstaltete.

Fazit: Beim Verhältnis der Menschen zu ihren Göttern wird es innerhalb der EU auf absehbare Zeit keine gemeinsame Politik geben. Zu unterschiedlich sind die Beziehungen zwischen den religiösen Gruppen und dem Staat geregelt. Frankreich hält an der strikten Trennung von Staat und Kirchen fest. Deutschland dagegen räumt den anerkannten Religionsgemeinschaften weitreichende Privilegien ein – zum Beispiel die Erteilung und die Finanzierung des Religionsunterrichts an den Schulen. Holland wiederum hat 1982 eine radikale Trennung zwischen Staat und Religion vollzogen. Öffentliche Gelder erhalten Religionsgemeinschaften nur für soziale Aktivitäten.

Bei allen Unterschieden in Einzelaspekten gibt es allerdings in allen Mitgliedsländern das vitale Interesse an einer Integration der Muslime, auch der islamistischen Gruppen. Schon aus Gründen des inneren Friedens. Für dieses Ziel ist man bereit, jahrhundertealte Prinzipien neu zu überdenken.

Beispiel Frankreich: Seit 1789 hält die Nation fest am Ideal der Zivilgesellschaft, in der alle Bürger Gleichheit in ihren Rechten genießen, egal was ihre Herkunft oder ihre persönlichen Anschauungen sind. Als Garant dieser Prinzipien gilt die strikte Trennung von Staat und Kirchen. Religion ist demnach Privatangelegenheit, die aus dem öffentlichen Leben herauszuhalten ist.

Dieser Konsens wird seit den 80er-Jahren von muslimischen Gruppen in Frage gestellt. Viele setzen die Säkularisation mit Gottlosigkeit und Missachtung ihrer Religion gleich. Und Rémy Leveau vom Institut d’Études Politique in Paris beobachtet vor dem Hintergrund der Salman-Rushdie-Debatte, des Golfkrieges und des Bürgerkriegs in Algerien eine geringere Akzeptanz des Französischen.

Muslime, so Leveau, bestehen verstärkt auf der öffentlichen Manifestation ihres Glaubens – zum Beispiel durch das Tragen eines Kopftuches. Und seit den Neunzigerjahren spielen islamische und islamistische Gruppen eine Rolle in den verarmten Vorstädten, in denen sich die Regierung außer Stande sieht, soziale Unterstützung und die Erziehung aufrechtzuerhalten.

Die Zeiten haben sich geändert. Während vor ein paar Jahren noch die Forderung nach politischer und sozialer Gleichstellung der Einwanderer bei gleichzeitiger Wahrung ihrer kulturellen Identität im Zentrum der Diskussionen stand, gewinnt das Religiöse heute an Bedeutung. So betont Johannes Kandel, Referatsleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass es ihm in einer Gesellschaft, die religiöse Pluralität beansprucht, nicht darum gehe, die Religion wie in Frankreich in den Hintergrund zu drängen. Vielmehr gelte es, Religion in ihrer Stellung zu stärken, da sie eine Quelle von Werten und Normen sei.

Bei der augenblicklichen Debatte wird mehr verhandelt als nur die dringend notwendige rechtliche Gleichstellung einer religiösen Minderheit. In der versteckten Agenda geht es auch um die Frage, welche Rolle Religionen künftig für den Zusammenhalt von Gesellschaften spielen sollen, in denen sich der Staat außer Stande sieht, den sozialen Ausgleich auf dem Niveau der vergangenen Jahrzehnte aufrechtzuerhalten.

In den französischen Vorstädten und den Einwandererquartieren in Großbritannien und Deutschland bietet sich ein ähnliches Bild: Jugendliche aus bildungsferneren Familien mit muslimischem Hintergrund gehören zu den Verlierern. Staat und Gesellschaft können und wollen sie nicht mehr integrieren. Es fehlt an Arbeitsplätzen, an Geld für Jugendarbeit, an Mittel für Fördermaßnahmen im schulischen und im beruflichen Bereich. Was als kostengünstige Variante bleibt, ist eine Politik der Anerkennung der religiösen Identität.

Diese kommt den Jugendlichen scheinbar entgegen. Denn ein Teil von ihnen reagiert auf die Ausgrenzung mit Selbstisolierung, Widerstand gegen die westliche Welt und die Besinnung auf die Quellen ihrer Religion.

Wer sonst nichts hat, dem bleibt zumindest die Ressource Islam. Und wenn weder Gewerkschaften noch öffentliche Bildungseinrichtungen oder säkulare Interessensvertretungen der Migranten wie zum Beispiel die Türkische Gemeinde Einfluss auf diese Jugendlichen haben, dann bleiben immer noch die Imame als Ansprechpartner. Ihnen traut der Staat offensichtlich den Einfluss auf die Gettos zu, der den inneren Frieden sichern soll.

In den Chefetagen der christlichen Kirchen sieht man diese Entwicklung mit Wohlwollen. Wenn soziale Fragen bei der Islamdebatte in religiöse umdefiniert werden, wertet das auch die eigene gesellschaftliche Stellung wieder etwas auf. Denn die hat in den letzten Jahrzehnten in der Spaßgesellschaft doch merklich gelitten.