Saufen, lachen und lustig sein

■ Die Grauen alkoholbedingten Alzheimers wurden im Schauspielhaus bei der Premiere der „Affäre Rue de Lourcine“ so erquicklich inszeniert, wie sie Eugène Labiche vor 150 Jahren in Vaudville-Form goss

Welche blutrünstigen Abgründe lauern tief in uns drinnen? Diese Frage wurde in Deutschland nach dem Holocaust mit großer Selbstzerknirschungsbereitschaft hin- und hergewälzt: hallo, Bruder Eichmann. Eugène Labiche (1815-88) ging ihr in einer Komödie nach, der „Affäre in der Rue de Lourcine“. Der simple Inhalt: Zwei unbescholtene Bürger wachen eines Morgens nebeneinander auf und zwei Dinge sind anders als sonst: Die Köpfe sind katergeschädigt, dafür aber bar jeglicher Erinnerung an die durchzechte Nacht. Und dann schlagen bei Labiche die kleinen Dinge mit zerstörerischer Gewalt zu: Diesmal ist es kein Florentiner Strohhut, auch keine Spardose, sondern eine Zeitung und ein Regenschirm. Diese bescheidenen Objekte legen es nahe, dass sich die beide Zechbrüder ihre kleine „temps perdu“ auf unglückliche Weise ver“trieb“en haben: mit der Schändung und Niedermetzelung eines Mädchens. Wie bei jedem karrierehemmenden Fauxpas lautet das Gebot der Stunde: Vertuschung. Und zu diesem unbestreitbar notwendigen Zweck lässt man schon mal einen Diener oder Schuldenmacher über die Klinge springen; schließlich ist der Wert der eigenen Person höher einzuschätzen – zumindest bei nüchtern-kapitalistischer Betrachtung in alkoholisiertem Zustand. Am Schluss kommen die potentiellen Mörder noch mal mit heiler Haut davon. Wie immer bei Labiche. Die Morde waren eingebildet. So viel darf man hier durchaus verraten. Labiches Stücke nämlich leben nicht von Spannung und Überraschung. Situationskomik ist ihr Mittel – und eigentlich auch ihr Zweck und Ziel.

Hatte Molière die schlechten Eigenschaften – Misanthropie, Hypochondrie – noch auf verschiedene Stücke verteilt, so wird die Bourgeoisie bei Labiche von keiner Hässlichkeit verschont: Gefräßigkeit, aber auch das Getue feinen Benehmens, Geiz, Bestechlichkeit, Arroganz gegenüber niederen Ständen – alles ist schön schematisch zubereitet. Und die Entlarvungsformeln des Vaudvilles sind so narrensicher wie noch zu Haydns Zeiten die Sonatenform; was eine vergleichbare Fließbandproduktion ermöglichte: Labiche verfasste 175 Komödien, Eugene Scribe, Kollege im Spaß, gar 400. Persönliche Autorenschaft ist da nur bedingt nötig, und so arbeiteten die Pariser Vaudville-Autoren sehr oft in Paaren. Emile Zola übte Kritik an dieser Gesellschaftskritik: Das Laster werde zur starren Grimasse verzerrt, die nicht nach Erkennen giert, sondern nur nach Lachen.

Regisseure wie Peter Stein und Klaus Michael Gruber und Übersetzer vom Kaliber einer Jelinek meinten hinter Labiches Leichtigkeit Tiefe zu erkennen. Doch Zolas Kritik überzeugt noch heute. Mit einem feinen Unterschied: Spricht doch nichts dagegen, wenn ein Stück zum Schreien komisch ist und sonst nichts. Endlich mal kann ein Ensemble frei aufspielen, ohne nach Aktualisierung und Botschaft zu lechzen. Und so geben sich Regisseur Wolf-Dietrich Sprenger und sein Ensemble befreit der Gaudilust hin. Virtuos schon der Anfang: Mitten hinein in die Spannungspausen von dramatischen Verdiklängen flatscht Diener Justin sein herzhaftes „Hatschi“ oder ein feinsinniges „Was für eine Schlafmütze“. Und wenn die Akteure schon unsublim wie die Stiere saufen, greift man zum unsublimen Zeichen und hängt ihnen einen röhrenden Hirsch übers Bett. Der Rest der Bühne aber ist nobel: schwarz, weiß, rot, und natürlich schief, wegen des Alkohols. Und so versteht es dieses Ensemble Kalauerfreude und Geschmackssicherheit zu vereinen. Diener und Ehefrau tragen heitere Haarskulpturen, im Mund klappert ein Jerry-Lewis-Gebiss. Und dann gibt es noch den Uraltbrüllklassiker: Männer in Unterhosen. Susanne Schrader aber darf ein bisschen Würde behalten. Das Stück ist so wunderbar leichtfüßig wie der Etepetete-Gang von Christian Schmidt in seinem gelackmeierten Schuhwerk. Nur gut aber, dass das Stück nur 80 Minuten dauert, denn am Ende beginnt das Lachen zu ermüden. bk

Weitere Aufführungen: 14., 16., 21., 23., 25.2., 20 Uhr, Schauspielhaus.