Wahrhaftige Erbaulichkeiten

Immer wieder die gleichen rührenden Coming-out-Geschichten: Die lesbischen Filme auf der Berlinale zeichnen sich mehr durch guten Willen als cineastische Qualität aus

Wenn es einen Film auszeichnet, dass er etwas Neues zeigt, etwas, was man in dieser Form noch nicht gesehen hat, dass er einen fremden Blick wirft auf einen vertrauten Gegenstand, wenn also all dies Kriterium für Qualität ist, dann schneiden die meisten Berlinale-Filme, die sich lesbischen Themen widmen, nicht eben gut ab. Das ist sicherlich nicht die Schuld des Festivals, sondern gibt vielmehr Aufschluss über den Zustand eines Kinos, das sich die Etikette „queer“ nur verleiht, weil sie gerade modisch ist. Wollte man defätistisch sein, man könnte einen Zusammenhang zwischen gesellschaftspolitischer Mainstreamisierung und künstlerischer Sprachlosigkeit vermuten.

Als Sujet gern genommen ist das Coming-out. Nicht, dass es keine schönen Filme dazu gäbe – der vor zwei Jahren mit dem Teddy Award ausgezeichnete „Fucking Amal“ etwa bleibt in Erinnerung. Und auch die schlechteren Coming-out-Filme haben ihren rührenden Augenblick. Nur: Warum wird immer wieder dieselbe Geschichte erzählt? Warum folgen wir bis zur Ermüdung dem Teenager, der mit seinem Geheimnis und mit seiner Umgebung kämpft, bis er die Wahrheit über sich akzeptiert? Der teleologische Aufbau, die große, befreiende Geste, der Bildungsroman: Das ist zu erbaulich, um nicht zugleich auch ideologisch zu sein. Vermutlich hat sich das Primat der Sichtbarkeit – die unterrepräsentierte Minderheit erobert sich durch positive Repräsentationen gesellschaftlichen Raum – in eine Bürde verwandelt. Denn im schlimmsten Fall verleitet es dazu, den Dienst an der guten Sache, das heißt die Werbung für Homosexualität, höher zu werten als die filmische Komplexität.

Erbaulich in diesem Sinne ist Bob Gosses „Julie Johnson“ (Panorama), ein Film, der die Emanzipation einer Vorstadthausfrau schildert: Warum man mit zwei so tollen Schauspielerinnen wie Courtney Love und Lili Taylor einen so langweiligen Film dreht, bleibt ein Rätsel. Immerhin reüssierte Lili Taylor in „I Shot Andy Warhol“ als Valerie Solanas und gründete die Society For Cutting Up Men. Geblieben ist davon leider nur eine Stirnader, die in Momenten der Erregung anschwillt, als wäre Taylors Gesicht von einem Bildhauer modelliert.

In Léa Pools „Lost And Delirious“ (Panorama) geht es zwar nicht ganz so erbaulich zu insofern die kanadische Regisseurin darauf verzichtet, ihren Internatsfilm in der alle Spannungen lösenden, befreienden Geste gipfeln zu lassen. Doch sie inszeniert die Geschichte eines scheiternden Coming-outs mit so viel Bombast, dass kein Zwischenton übrig bleibt. Wie in einem Ritterroman stattet sie ihre Protagonistin Paulie mit Degen und Falken aus und legt ihr so viel Shakespeare in den Mund, als wollte sie „Der Club der toten Dichter“ neu verfilmen.

Erstaunlich auch, dass einer prominenten lesbischen Theoretikerin wie Monique Wittig außer Butch-Femme-Klischees (in lesbischen Beziehungen übernimmt immer eine den „männlichen“, die andere den „weiblichen“ Part) nicht viel einfällt, wenn sie ein Drehbuch schreibt. „The Girl“ (Regie: Sande Zeig, Panorama) gibt sich alle Mühe, Verruchtheit, Nachtleben, Gefahr und Geheimnis zu inszenieren. Das ergibt einen durchgestylten Film Noir. Dadurch bekommt „The Girl“ einen anachronistischen Zug: Wenn etwa Agathe de la Boulaye in der Rolle der „The Painter“ genannten Butch nachts am Seine-Ufer entlangflaniert, lässt Zeig außer Acht, dass eine solche Szene nurmehr als Zitat funktioniert. Trost kommt aus Japan: „Love/Juice“ von Kaze Shindo verhandelt nicht nur einen veritablen Konflikt, der Film findet auch aufregende Bilder. Oder haben Sie schon einmal gesehen, wie ein Piranha einen Goldfisch frisst?

CRISTINA NORD

„Love/Juice“. Regie: Kaze Shindo, Japan, 78 Min. „The Girl“. Regie:Sande Zeig, USA, 84 Min. „Lost and Delirious“. Regie: Léa Pool, Kanada, 100 Min. „Julie Johnson“. Regie: Bob Gosse, USA, 99 Min.