Das große Krabbeln

Als die Stadt Berlin eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, suchte sie erst einmal nach einer langsamen Gangart: Der russische Maler Nikolai Makarov lud am Wochenende zum Kakerlakenrennen

von KOLJA MENSING

„Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße“, dachte er. (Franz Kafka, Die Verwandlung)

Samstagnacht, 0.42 Uhr. Nikolai Makarov feuert den Startschuss ab, die Verschläge öffnen sich. Im Tränenpalast hat das 6. Berliner Kakerlakenrennen begonnen. Sieben ausgewachsene australische Küchenschaben stürzen aus den Boxen hervor. Das heißt, es sind nur sechs. Pamir, der an den Wettschaltern als sicherer Tipp gehandelt worden war, verweigert und wird disqualifiziert. In Führung liegt die ehrgeizige und laufstarke Olga II.

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Als die Stadt Berlin eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand sie sich zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Sie lag auf ihrem panzerartig harten Rücken und sah, wenn sie den Kopf ein wenig hob, ihren gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch. Ihre vielen, im Vergleich zu ihrem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihr hilflos vor den Augen. „Was ist mit mir geschehen?“, dachte sie.

Es war kein Traum. Als die Stadt Berlin an diesem Morgen irgendwann in den Neunzigerjahren als schwerfälliges Insekt erwachte, hatte sie das Gefühl, zum ersten Mal seit langem wieder sie selbst zu sein und sich von den Anstrengungen des Hauptstadtberufs ausruhen zu können – genau wie einst der übermüdete Handlungsreisende Gregor Samsa in der Geschichte von Franz Kafka erwachte und trotz seiner Verwandlung in einen unansehnlichen Käfer gar nicht traurig darüber war, dass er an diesem Morgen den Frühzug wohl nicht mehr erreichen würde: „Dies frühzeitige Aufstehen“, dachte er, „macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss seinen Schlaf haben.“

Obwohl sie sich redlich bemühte, eine große und unruhige Metropole zu sein, entdeckte die Stadt Berlin schon bald ihre Sehnsucht nach den alten, unbewegten Zeiten. Sie entdeckte die verfallenen Mietshäuser des Ostens und die alten Einkaufsstraßen des Westens, betrauerte den Abriss eines jeden Gebäudes, das in den städtebaulichen Entwürfen der Hauptstadt nicht mehr vorgesehen war, und konnte sich nicht an den neuen Potsdamer Platz gewöhnen.

Umso mehr erfreute sie sich an Menschen wie dem russischen Maler Nikolai Makarov. Der hatte Mitte der Neunzigerjahre in der damals hauptsächlich von Baukränen und Lastwagen bevölkerten Linienstraße sein „Stilles Museum“ eingerichtet, mit erdfarbenen, an Rembrandt erinnernden Bildern. Und dieser Nikolai Makarov hatte damals Berlin ein Geschenk angekündigt, das er und seine russischen Freunde der Stadt machen würden: „Wir haben eine etwas langsamere Gangart“, verkündete er zur Eröffnung des Museums. Auf diese Worte hatte man gewartet.

In den folgenden Jahren entdeckte die Stadt Berlin die russischen Einwanderer. In melancholischen Zeitungsartikeln erinnerte man an die Zwanzigerjahre, als die gesammelte „Intelligenz aus Osteuropa“ ihre Abende am Savignyplatz verbrachte, lauschte begierig dem „schweren russischen Akzent“ des Schriftstellers Wladimir Kaminer und schwärmte von durchzechten Nächten zur fremden, schwermütigen Musik seiner Russendisko.

Als dann der Maler Nikolai Makarov zum ersten Mal zu einem Kakerlakenrennen in sein Atelier in der Chausseestraße 131 lud, dem Haus, in dem vor vielen, vielen Jahren Wolf Biermann seine Wohnung hatte, da hatten alle die, die sich in der Stadt Berlin nicht mehr recht zu Hause fühlten, eine neue Heimat gefunden. Nikolai Makarov erklärte seinen Besuchern, wie die Kakerlakenrennen in den Zwanzigerjahren von russischen Exilanten in Paris und Konstantinopel erfunden wurden und ihre Teilnehmer seitdem das Wappentier der Emigration sind: „Kakerlaken und Flüchtlinge werden nur geduldet in kleiner Zahl, dann sind sie Exoten“, sprach Nikolai Makarov. Und immer mehr Gäste flüchteten sich für einen Abend von den Anmutungen des Hauptstadtlebens in sein Atelier.

Mehr als 600 Leute standen bei der letzten Veranstaltung auf der Chausseestraße, weil sie in die überfüllten Räume nicht mehr hineingekommen waren. Das 6. Kakerlakenrennen fand an diesem Wochenende darum im Tränenpalast an der Friedrichstraße statt. Passenderweise ist es nach einer der großen Figuren des alten Berlin benannt, nach Moritz de Hadeln, dem scheidenden Leiter der Berlinale. In einem tragischen Kampf hatte er sich gegen die Verlegung der Filmfestspiele an den Potsdamer Platz gewehrt und war zum Dank für seine Bemühungen von Michael Naumann aus seinem Amt vertrieben worden. Ein Märtyrer.

Viele ältere Damen und Herren haben sich zum Moritz-de-Hadeln-Gedächtnisrennen eingefunden. Gerne erzählen sie den interessierten Reportern von ihrer ersten Begegnung mit Nikolai Makarov in der Paris Bar oder einem Atelier in Berlin-Mitte. Auch einige jüngere Menschen sind hier, Studentinnen, die teure Strickwesten tragen und ihren Begleitern die Rollkragen gerade zupfen. Ein Hauch von alten Zeiten hängt in der Luft wie schweres Parfüm, und immer wenn ein Russe mit kahl geschorem Schädel, teurer Lederjacke und einer schönen Frau mit Nerz an ihnen vorbeiläuft, sehen sich die andere Gäste bedeutungsvoll an.

Der Galerist Rudolf Schoen ist als Moderator engagiert worden. Er begrüßt die versammelten „Freunde der Melancholie und Nostalgie“ und ruft dem Namensgeber der Veranstaltung ein weihevolles „Have a good time“ hinterher. Dann bittet er das Publikum, den Weg zur Rennbahn freizugeben, einem zwei Meter langen, mit Filz bezogenen Tisch. Ein Assistent von Nikolai Makarov bringt ein Tablett mit sieben gläsernen Bonbongläsern an den Start. Er nimmt die Küchenschaben einzeln aus den Gefäßen, lässt sie kurz über seine Hand laufen und setzt sie dann in ihre Boxen.

Das Rennen kann beginnen. Es ist 0.40 Uhr. Wer keinen Platz am Tisch bekommen hat, sieht auf die großen Videoleinwände. In zwei Minuten schließen im Tränenpalast, in dem einst der innerstädtische Grenzverkehr abgewickelt wurde, die Wettschalter. Eine ganze Stadt setzt darauf, dass sie zu ihrer ruhigen Gangart zurückfinden wird und wieder ruhig schlafen kann.

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Samstagnacht, 0.43 Uhr. Das Moritz-de-Hadeln-Gedächtnisrennen ist vorbei. Olga II. ist abgeschlagen worden und erreichte als Zweite das Ziel. Der Sieger ist Nina, eine Außenseiterin, die vergangenen November noch von ihrem Stallgefährten Sergej vernichtend geschlagen worden war. Während die Quote berechnet wird, drängeln sich die Fernsehteams um die Box von Pamir. Er, der sich dem Wettkampf ganz und gar verweigert hat, müde und matt wie einst der Handelsreisende Gregor Samsa, ist der eigentliche Star des Abends.