Das Lob gebührt der Straße

Die Geschichte zeigt nicht erst seit 1968: Demokratie ohne Aufstand gibt es nicht. Trotzdem gilt ziviler Ungehorsam gegen Unmenschlichkeit nach wie vor als Sünde

Demokratien sind angewiesen auf Revolutionen, Aufstände und Aktionen des zivilen UngehorsamsRechfertigen müssen sich die neoliberalen „Terroristen der Ökonomie“ – und nicht ihre Gegner

Die Debatte über die Bewegungen seit 1968 sprengt alle Rekorde an Schlamperei im Detail und Ignoranz des Bezugsrahmens. Egal in welchem Interesse – es wird gefälscht oder gehudelt.Die „dicksten Klöpse“ machen Schlagzeilen, andere werden kaum bemerkt. Ulrich Wickert bringt in den „Tagesthemen“ nicht nur Joschka Fischers Fahndungsfoto von 1976, sondern – ohne Namensnennung – auch das Bild eines anderen Mannes, der in Untersuchungshaft saß, für den Tausende demonstrierten und der schließlich wegen null Komma null Verdachts freikam. Stellen wir uns vor, der Mann segelt mit der Liebsten in der Karibik, und über Satellit überrascht sie Wickert (einer seiner Buchtitel: „Der Ehrliche ist der Dumme“) mit diesem Albtraum.

Oder: Ein verdienter Anwalt aus den barbarischen Prozessen der 70er-Jahre plädiert dafür, dass Fischer sich wegen Prügel gegen einen Polizisten in der Hitze des Gefechts nicht entschuldigen müsste. Dieser schreibt laufend von der Putztruppe statt von der Putzgruppe, was doch wohl nach Militär klingt. (Softie Wickert, umgekehrt, hatte von Putzkolonne geschlurt: Joschka mit Lappen, give peace a chance.) Wäre es vermessen, eine Zwischenbilanz zu versuchen, sodass wir uns wenigstens einig sind, worüber wir uns streiten?

Demokratien sind angewiesen auf Revolutionen, Aufstände, Aktionen des zivilen Ungehorsams, die aufs Ganze gehen. So ist auch die heutige Demokratie in Deutschland, und zwar vom konservativen bis zum linken Lager, abhängig von: Frankreich 1789, Deutschland (fast ganz Europa) 1848, Deutschland 1918, DDR 1953 und 1989. Die Alliierten, die Deutschland von den Nazis befreiten, beriefen sich sämtlich auf ihre Revolutionen. Die erzkonservative Maggie Thatcher legte Wert darauf, dass England seine Revolution schon 1215 hatte, lange vor den Franzosen!

Diese Aufstandsbewegungen sind nicht auf ein „Gesetz des Dschungels“ reduziert, sie haben eigene Regeln der Fairness und Verhältnismäßigkeit. Auch heute steht die Revolution insofern auf der Tagesordnung (bitte, Stalinismusblinde und Sprücheklapperer in historischen Kostümen, geht mal Kaffeetrinken, ihr tragt hier nichts bei), als Kapitalismus, rassistisch unterbauter Imperialismus, Patriarchat, Umweltzerstörung einerseits weltweit herrschen, meist legal, und andererseits ihre Legitimität mit der Lupe suchen müssen.

Von Seattle bis Prag und Porto Alegre müssen sich die neoliberalen „Terroristen der Ökonomie“ rechtfertigen – nicht ihre Gegner.

Gesucht sind Revolutionen, die nicht die eigenen Erfolge zerstören. Das Problem ist, Formen zu finden, die die bisherigen Erfolge des Protests und die anerkennenswerte Lernfähigkeit der Gegenseite nicht missachten und zerstören. Umso selbstverständlicher und offensiver können die Basisbewegungen seit 1968 sich verteidigen, die einzelne legale, aber extrem gefährliche, teilweise mörderische Verbrechen und Fehlentwicklungen korrigiert haben, seien es Angriffskrieg und Völkermord in Vietnam, Stadtzerstörung, Tschernobyl oder Polizeiübermacht. Zumindest die spontaneistisch-feministischen Richtungen hatten, auch nicht „übergangsweise“, nicht den Staatsstreich oder die Avantgardediktatur im Programm. Weltweit sind vielleicht die Zapatistas in Mexico das Beispiel für Kompromiss- und Kommunikationsfähigkeit von Anfang an.

Die Opfer der Regelverletzungen durch zivilen Ungehorsam oder Straßenkampf – und umso mehr von Stadtguerilla-Aktivitäten – haben jedes Recht, sich zu Wort zu melden, genau wie die Opfer von Staats- oder Polizeibrutalität. Ohne pathologische Reaktionen wird das nicht abgehen; auch sie haben historische Bedeutung. Das gilt für die Töchter von Ulrike Meinhof (darum möge der Kiepenheuer & Witsch Verlag das Buch von Bettina Röhl nicht kippen, sondern den Streit aushalten): Guerillaregel war, die Kinder verdammt noch mal rauszuhalten, und der Verstoß dagegen ist jeden Aufschrei wert. Das gilt für die Söhne des früheren Generalbundesanwaltes Buback, der 1976 von der RAF erschossen wurde. Das gilt für die Frau des damaligen Chefs der Treuhandanstalt Rohwedder, der 1991 bei einer der RAF zugeschriebenen Aktion ermordet wurde. Das gilt aber auch für die von der Polizei Niedergeknüppelten und für die Angehörigen von Benno Ohnesorg, der 1967 in Berlin bei einer Demonstration erschossen wurde. Das gilt für die Angehörigen von Günther Sare, der in Berlin bei einer Demonstration gegen die NPD von einem Wasserwerfer der Polizei überfahren und tödlich verletzt wurde. Und das gilt für die Angehörigen von Kemal Altun, einem verzweifelten Asylbewerber, der sich aus dem Gerichtsfenster zu Tode stürzte. Und nicht zuletzt gilt das für Hinterbliebene der Toten aus Isolationshaft und der Stadtguerilla, wenn sie sich denn einmal verständlich machen.

Ziviler Protestaktionismus und auch die Guerilla müssen sich an Regeln von Humanität und Fairness messen lassen, die nicht niedriger oder weniger einklagbar sind als Haager Landkriegsordnung und polizeilicher Verhaltenskodex – im Gegenteil, die Messlatte muss höher liegen. Kritik am Regierungshandeln ist wichtig, wichtiger ist eine machtvolle Präsenz der Basisbewegungen.

Nicht dass frühere ProtestaktivistInnen von einer lern- und kompromissfähigen politischen Klasse kooptiert werden und in der staatsorientierten Ministerrolle auf die geltende Kleiderordnung schwören, ist das Problem. Im gelungenen Fall ist dies nicht anders als der Rollenübergang von berechtigt aufbegehrenden Jugendlichen zu den Eltern mit Kids, die auch leere Kreuzungen nur bei Grün überqueren. Verrat? Opportunismus? Da braucht es genaue Argumente innerhalb des Bezugsrahmens „Regierungshandeln“. Aus der Opposition heraus kannst du gerne eine Tonne fordern – wenn du in der Regierung hundert Gramm umsetzen kannst, bist du gut.

Auch von der „linken Boheme“ oder der „neuen Mittelschicht“ mit ihren experimentellen Lebensläufen die traditionelle Disziplin von Arbeiterklasse oder Bürgertum einzuklagen, trifft daneben. Woran es fehlt, ist die gesammelte Nicht-MinisterInnen-Power der Anti-Atom-, Frauen-, Mauerfall-, Multikultur-Aktiven, die offensiv reklamieren: Ohne „die Straße“ gibt es keine Demokratie! Und die jungen Fischers von heute sorgen dafür, dass „die Straße“ an warmen, konkreten Protestformen festhält, statt in die kalte und abstrakte Routine einer (Untergrund-)Armee überzuwechseln.

Die AktivistInnen seit 1968 leiden unter dem Dorian-Gray-Syndrom ewiger Jugend. Selbst für Kraushaar an Reemtsmas Hamburger Institut gilt das. Noch fehlt eine kritischen Maßstäben genügende Aufbereitung der eigenen Geschichte.

Rohmaterial dokumentieren und Anekdoten erzählen, das reicht nicht. Über die Geschichtsdeutung sollten nicht die intellektuellen Kameraden eines Kurras (der Polizist, der Benno Ohnesorg erschoss und auf den denkbar mildesten Rechtsstaat traf) herrschen. Nicht alleine. RICHARD HERDING