Vor dem Lesen kommt das ABC

Nach Auffassung des Humangenomprojekts (HGP) habe man gerade erst die Buchstaben des Genoms entziffert: „Die Biologen lernen jetzt zu lesen“

aus Berlin MATTHIAS URBACH

Häme habe man sich anhören müssen, „Maschinengewehrsalven von Craig-Venter-Sprüchen“. Der Tag der Präsentation der ersten publizierten Fassung des menschlichen Genoms in der Berliner Bundespressekonferenz war deshalb auch ein Tag der Abrechnung. Helmut Blöcker wurde ganz deutlich: „Ohne unsere Daten wäre Craig Venter komplett gescheitert.“ Blöcker ist Koordinator und Sprecher des deutschen Humangenom-Sequenzierkonsortiums. Persönlich habe er nichts gegen Venter. Der sei ein „geselliger und smarter Kerl und ein knallharter Geschäftsmann“. Und das sei durchaus in Ordnung. Doch seine markigen Sprüche haben im vergangenen halben Jahr die Forscher des öffentlich geförderten Humangenomprojekts (HGP) in Erklärungsnöte gebracht – auch Blöcker. Selbst unter Biologen habe er sich die Frage gefallen lassen müssen, warum er denn nun noch Geld brauche, wo doch die US-amerikanische Firma Celera die Sequenzierung viel schneller erledige. „Wir mussten darum kämpfen“, sagt Blöcker, „unsere Arbeit weiter finanzieren zu können.“

Nun wurde zum ersten Mal das menschliche Genom in wissenschaftlichen Arbeiten publiziert. Erstmals hatten damit Forscher des HGP die Möglichkeit, auch Venters Daten etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Die ersten Ergebnisse scheinen alles zu bestätigen, was HGP-Forscher schon immer vermutet haben. Das Ganz-Genom-Schrotflinten-Verfahren, das Venter benutzt, funktioniert nicht. Jedenfalls nicht, wenn man nicht auf die Daten des HGP zurückgreifen kann. Venter schredderte, vereinfacht ausgedrückt, das gesamte Genom von 3,2 Milliarden Basen in kleine Teile und puzzelte sie hinterher im Computer wieder zusammen. Das HGP dagegen isolierte zunächst jedes Chromosom einzeln, zerlegte das wiederum in kleinere Stücke von mehreren hunderttausend Basen, die es zunächst in einer Reihenfolge anordnete. Erst dann ließen die öffentlich finanzierten Forscher die Schrotflinte los. Was sie dann erhielten, ließ sich einfacher zusammenpuzzeln.

Celera habe mit seinen Daten zwar einige Inseln von Sequenzsträngen zusammenführen können, sagt Blöcker, aber diese Inseln waren noch frei fließend und konnten erst durch die bestehenden Karten des HGP auf der Weltkarte des Lebens fest verortet werden. Blöcker beruft sich auf eine erste Analyse der beiden größten Institute aus dem HGP: dem US-amerikanischen Whitehead-Institut und dem britischen Sanger Centre. Rund 60 Prozent der Informationsmenge, die Venter nun veröffentlicht, stammt demnach direkt oder indirekt aus dem Archiv des Humangenomprojekts. Venter selbst gibt nur einen Anteil von einem Drittel an.

Dies sei unwahr, so Blöcker, weil Venter die höhere Wertigkeit der HGP-Daten vernachlässige. Schließlich habe er fast 100 Prozent der Information über die richtige Verortung der Gene aus den öffentlichen Archiven. Das veranschaulicht auch ein Vergleich der längsten zusammenhängenden Stücke, die gestern von Venter und dem HGP präsentiert wurden. Dies ist beim HGP elfmal so lang wie bei Venter. Celeras Verfahren habe zu hunderttausenden von übriggebliebenen Puzzleteilen geführt, erzählt Blöcker. „Ohne dass es für die meisten von diesen Fragmenten Hoffnung darauf gäbe, sie im Genom näher zu lokalisieren.“ Hätte Celera ohne das HGP seine Arbeit verrichten wollen, hätte sie das nur unter großen Mühen schaffen können, mit dem mindestens vierfachen Informationseinsatz – „und zu völlig inakzeptablen Kosten“, sagt Blöcker.

Die Ironie ist freilich, dass Venter das ganz egal sein kann. Er wird so oder so an seiner Arbeit verdienen. Denn eines geben auch die HGP-Forscher zu: Venter verfügt vermutlich über die vollständigeren Daten, eben weil er vom HGP Daten übernommen hat. Schon deshalb sei es wahrscheinlich, dass die Industrie auf Celeras Geschäftsidee anspringt und dort die Daten kauft.

Anders als beim öffentlichen Projekt nämlich, wo die Daten frei zugänglich sind, verlangt Venter Nutzungsgebühren. Am meisten zahlen große Unternehmen. Kleine Firmen bekommen eine Ermäßigung, müssen dann aber eine Beteiligung an eventuellen Erfindungen zusichern. Forscher bekommen die Informationen kostenlos – allerdings nur maximal eine Million Basen, also weniger als ein Promille des Gesamtgenoms. Wer mehr will, muss zusichern, daraus keinen wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen. Auch für einen Forscher, der vielleicht mal ein Start-up gründen möchte, falls etwas besonderes herauskommt, eine abenteuerliche Zusicherung. Außerdem wäre nicht klar, wie weit sie ihre neuen Erkenntnisse verbreiten dürften, ohne mit dem Urheber Celera in Konflikt zu geraten.

Ein weiterer Vorteil von Celera ist die Aufbereitung der Daten und ihre Vergleichbarkeit mit denen von anderen Säugetieren, etwa der Maus. Das können die HGP-Forscher so nicht bieten.

Trotz der Veröffentlichungen sind übrigens weder Celeras Daten noch die des HGP bislang komplett. Venter hat zwar schon 99 Prozent in einer Rohfassung, aber nur 90 Prozent am richtigen Ort einsortiert. Das HGP, an dem zwanzig Institute aus den USA, Großbritannien, Japan, Deutschland, Frankreich und China beteiligt sind, hat 94 Prozent der Rohdaten fertig und 92 Prozent einsortiert. Ein paar Gene sind allerdings schon ganz fertig, etwa das Genom 21, das japanische und deutsche Forscher fertig entschlüsselt haben.

Auch Blöcker, der selbst am Sequenzieren von Chromosom 21 beteiligt war und es stolz den „Goldstandard der Gentechnik“ nennt, weil es bereits die Endgenauigkeit von 99,995 Prozent hat, gibt sich zurückhaltend, wenn er das Geleistete beschreibt. Vom „entschlüsselten Genom“ will der Forscher mit dem grauen Zopf nicht sprechen. Man habe mit den dem Erbgut zu Grunde liegenden Basen Cytosin (C), Guanin (G), Adenin (A) und Thymin (T) gerade erst die Buchstaben des Genoms entziffert. Noch habe man nicht die Wörter – also die Gene – verstanden, geschweige denn die Sätze. „Die Biologen lernen jetzt zu lesen, und sie müssen erst noch lernen, den literarischen Wert zu schätzen.“