Die EU kommt aus den Hufen

Niemand kann sagen, wie sich die Ängste der Verbraucher entwickeln. Neue Erkenntnisse könnten den Widerwillen gegen Rindfleisch noch vergrößern

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Die europäischen Schaltzentralen Straßburg und Brüssel waren gestern beide mit den Folgen des BSE-Schocks beschäftigt. In Straßburg stellte Agrarkommissar Fischler dem EU-Parlament seine Ideen zur Extensivierung der Rinderzucht vor. Außerdem ließ er sich von den Abgeordneten den Nachtragshaushalt von 971 Millionen Euro absegnen, den die Finanzminister am Montag beschlossen hatten. In Brüssel traf der EU-Verwaltungsausschuss Vorbereitungen, um ab Freitag zum ersten Mal in der aktuellen Krise das so genannte Sicherheitsnetz zu spannen.

Diese Notbremse wird gezogen, wenn der Rindfleischpreis in einem Mitgliedsland zwei Wochen lang unter 60 Prozent des EU-Interventionspreises von derzeit 3.242 Euro pro Tonne fällt. In Deutschland und den Niederlanden ist der Markt so stark zusammengebrochen, dass das Sicherheitsnetz wirksam wird. Die EU kann nun nicht mehr selbst entscheiden, welche Mengen sie aufkauft und einlagert, um den Preis zu stabilisieren. Sie muss von heute an alles abnehmen, was von den deutschen und holländischen Erzeugern bei ihrer nationalen Anstalt für Landwirtschaft und Ernährung gemeldet wird – vorausgesetzt, die Anbieter liegen mit ihrer Preisforderung unter dem EU-weit ermittelten Durchschnitt der Angebote.

Die Kosten für diesen Marktstützungsautomatismus sind für die EU-Haushälter nicht berechenbar. Niemand kann sagen, wie sich die Ängste der Verbraucher in den nächsten Monaten entwickeln. Neue wissenschaftliche Erkenntisse könnten den Widerwillen gegen Rindfleisch weiter vergrößern. Neue Details aus dem Schweinemastskandal könnten aber auch dazu führen, dass wieder mehr Rindfleisch in die Pfanne kommt. Während Agrarkommissar Fischler schon Ende Januar vor einer Kostenexplosion warnte und prophezeite, das Sicherheitsnetz könne die BSE-Folgekosten verdreifachen, gibt sich der Sprecher von Haushaltskommissarin Schreyer gelassen. Da das Haushaltsjahr im Agrarsektor zum 1. Oktober beginne, seien ja fast fünf Monate geschafft.

Das klingt nach Pfeifen im Wald. Denn sowohl die EU-Finanzminister als auch das Parlament haben klargemacht, dass sie nicht daran denken, im nächsten Haushaltsjahr noch mehr Geld in den irrsinnigen Kreislauf aus Überproduktion und Subvention zu pumpen.

Noch bevor gestern in Straßburg die Kommissarsrunde Gelegenheit hatte, das weitere Vorgehen in der Rindfleischkrise zu diskutieren, machte Michaele Schreyer ihren Frust in einem Zeitungsinterview öffentlich: Nach wie vor setze der Agrarkommissar auf Marktstützung, statt das Übel an der Wurzel zu packen. Die derzeit 80 Millionen Rinder in der EU müssten innerhalb von 18 Monaten um acht Millionen reduziert werden. Nicht länger dürften groß angelegte Aufkaufaktionen dazu führen, dass weiter unverkäufliches Rindfleisch produziert werde. Dieser Vorschlag scheint einleuchtend, lässt aber die politischen Rahmenbedingungen außer Acht. Gerade Franz Fischler, der sich im Vorfeld der 1999 anstehenden Agrarverhandlungen für ein Umdenken in der Landwirtschaft eingesetzt hatte, dürfte die Kritik bitter treffen.

Die Kommission hatte dem Gipfel von Berlin unter Fischlers Federführung ein Konzept vorgelegt, mit dem die Wende von der Produktionsförderung zur Qualitätsförderung eingeleitet werden sollte. Die Agrarminister aber hatten das Kommissionspapier abgelehnt. Sie wollten ihre Klientel nicht verprellen und landwirtschaftliche Großbetriebe nicht dem rauen Klima des freien Marktes aussetzen.

Durch den BSE-Schock erlebt die Debatte von damals nun ihr Revival. Listig zieht der Agrarkommissar seine alten Vorschläge wieder aus der Schublade, wenn er anregt, nur noch die „ersten“ 90 Rinder eines jeden Betriebes zu subventionieren und weniger als zwei Rinder pro Hektar zur Voraussetzung für jede Förderung zu machen. Mit Spannung darf erwartet werden, wie sich die neue Landwirtschaftsministerin Renate Künast am 26. Februar im Agrarrat zu diesen Vorschlägen stellt.

Sollte wider Erwarten das Wunder geschehen, dass alle Minister einstimmig bereit sind, die Wende in der Agrarpolitik einzuleiten, so würde das an der derzeitigen Aufkauf- und Vernichtungsorgie nichts ändern. Noch ist die Kommission an die vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Bauern gebunden, die durch die Agenda 2000 entstanden sind. Eine Revision könnte frühestens auf dem Gipfel in Stockholm in diesem Sommer von den Staats- und Regierungschefs beschlossen werden.

Sie würde im Oktober wirksam, wenn das neue Haushaltsjahr beginnt. Für Ostdeutschland brächen harte Zeiten an, Auswirkungen auf den Rinderbestand würden sich aber frühestens zwei Jahre später zeigen. Gerade rechtzeitig für Polens EU-Beitritt. Die dortigen Höfe entsprechen dem neuen Brüsseler Ideal: geringer Viehbestand, extensive Rinderhaltung. Da hat Michaele Schreyer dann ein neues Budgetproblem.