Das Recht der neuen Technik

Das Revisonsgericht von San Francisco hat bestätigt, dass die Musiktauschbörse „Napster“ das Urheberrecht verletzt. Verloren hat trotzdem die Musikindustrie. Sie muss sich dem Internet anpassen

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Nicht zum ersten Mal wird die Geschichte des Internets von amerikanischen Gerichten geschrieben. Das Urteil des Bundesgerichts von Washington gegen den „Communications Decency Act“ der Clinton-Regierung enthält Sätze über das Recht der User, Computernetze zur freien Äußerung ihrer Meinungen, unbehindert von staatlichen Vorschriften oder auch wirtschaftlichen Zwängen, zu benutzen, die bis heute wegweisend sind.

Als jedoch an diesem Montag die 19. Kammer des Berufungsgerichts von San Francisco ihr Urteil im Verfahren von neun Schallplattenfirmen gegen die Firma Napster Inc. bekannt gab, ging es nicht um die Idee der Freiheit, sondern um das Geld. Auch in den USA hört dabei der Spaß auf. Richter Beezer, Vorsitzender der Kammer, hatte zu prüfen, ob die Richterin Marylin Hall Patel am Bezirksgericht San Francisco die Musiktauschbörse Napster zu Recht mit einer einstweiligen Verfügung anwies, den Zugang zu sämtlichen Dateien zu sperren, deren kostenlose Übertragung gegen das Urheberrecht verstoße. Die inzwischen auf geschätzte 60 Millionen Musikfans angewachsene Napster-Gemeinde fand keine Gnade bei Richter Beezer. In allen wesentlichen Punkten gab er der ersten Instanz Recht. Grundsätzlich, so lautet sein Tenor, verletze das massenhafte Tauschen von digitalisierter Musik die Rechte der Musikindustrie, und zwar selbst dann, wenn ein unmittelbar materieller Schaden nicht nachweisbar sei.

Lediglich in einem Punkt ordnet das Gericht eine Korrektur an. Anders als Richterin Patel entschied, könne Napster nicht zugemutet werden, von sich aus gegen mutmaßliche Raubkopien vorzugehen, vielmehr hätten die Kläger den Beweis zu erbringen, in welchen Fällen ihre Rechte verletzt seien, und die Betreiber von Napster auf tatsächliche Verstöße gegen das Urheberrecht hinzuweisen.

Der Musikindustrie wird es nicht schwer fallen, diese Fordezu erfüllen – sie hatte schon der ersten Instanz eine Liste von etwa 12.000 Titeln vorgelegt, die den beklagten Tatbestand erfüllen. Sie wird ihrer Beweispflicht um so lieber nachkommen, als die Berufungsinstanz mit einer Präzisierung die einstweilige Verfügung noch verschärft hat. Wann immer nämlich, sagt Richter Beezer, die Firma Napster auf einen nachweisbaren Rechtsbruch hingewiesen werde, habe sie dafür zu sorgen, dass er innerhalb des Tauschsystems unterbleibe. Napster wäre damit verpflichtet, eine Art Hauspolizei einzurichten, die Anbieter geschützter Dateien dauerhaft aus dem Netz verbannt.

Ein schwarzer Tag also für das Internet? Keineswegs. Zwar wird Richterin Patel ihre einstweilige Verfügung in den nächsten Tagen im Sinne der Revision erneut erlassen, doch Napsters Anwalt David Boies hat bereits den Gang zur nächsten Instanz angekündigt. Ohnehin ist das Verfahren in der Sache selbst noch gar nicht eröffnet, und solange der Rechtsstreit währt, wird Napster seinen Server für die zentrale Datenbank seiner User nicht schließen müssen.

Altmodische Industrie

Der Kommentar der Musikindustrie klang denn auch verhalten. Eher verzweifelt als von sich selbst überzeugt sagte Hilary Rosen, die Präsidentin des Dachverbands der amerikanischen Schallplattenindustrie RIAA, sie hoffe, dass Napster aufgebe und „sein Geschäft nun endlich nach althergebrachter Manier“ betreibe. Genau das wird nicht geschehen. „Altmodisch“ ist allein die RIAA. Die Marktforscher der Firma „Webnoize“ etwa haben errechnet, dass unter Napster allein im ersten Monat dieses Jahres fast drei Milliarden Musikdateien übertragen wurden – eine Zahl, die jeden Vertriebsmanager erbleichen lässt. Natürlich brach der Napster-Server nach der Urteilsverkündung unter der Last der Suchanfragen beinahe zusammen, auch das Usernetz selbst litt spürbar an Überlastung.

Nie war Napster so heiß begehrt wie jetzt. Nach allen Umfragen ist eine überwältigende Mehrheit der Teilnehmer wild entschlossen, ihr System zu verteidigen, Boykottkampagnen gegen die Klägerfirmen werden diskutiert, die Zahl alternativer Netze und Systeme, die zum Teil sogar ohne Zentraldatei auskommen, ist kaum noch zu übersehen: Niemand glaubt noch im Ernst daran, dass sich „Peer-to-Peer“-Netze privater User per Gericht verbieten lassen.

Andreas Schmidt, Chef der Abteilung für E-Commerce im Bertelsmann-Konzern gab umgehend zu Protokoll, dass Gerichtsurteile im Fall Napster „keinen Einfluss“ auf die Politik seines Hauses hätten. Bekanntlich hat Bertelsmann eine „strategische Kooperation“ mit Napster vereinbart und will Mitte dieses Jahres einen eigenen, nunmehr kostenpflichtgen Tauschring ans Netz bringen. Marktstudien hätten ergeben, dass die Nutzer durchaus bereit seien, einen gewissen Preis für die Teilnahme an einem leistungsfähigen Peer-to-Peer-Netz zu bezahlen. Das mögliche Ende von Napster werde die Entwicklung solcher Dienste nur beschleunigen und keineswegs verhindern.

Auch Bertelsmanns Konkurrenten werden diesen Weg beschreiten, das Internet lässt ihnen keine andere Wahl. Über seinen nachhaltigen Erfolg entscheiden nicht Juristen und Manager, sondern seine überlegene Technik und ihre massenhaften Anwender. Ebendeswegen lohnt es sich, den Text des Revisionsurteils zu lesen. Er ist un- ter www.lycos.com/news/flash/napstertext.html verfügbar. Kein Ausflug in die lichten Höhen der politischen Philosophie, sondern eine penible, kasuistische Sammlung von Argumenten, die einen nicht weniger fundamentalen Konflikt beschreiben als den Konflikt zwischen Freiheit und staatlich verordneter Moral. Auf der einen Seite steht diesmal das Recht freier Unternehmen auf den Gewinn bringenden Verkauf ihrer Produkte, auf der anderen die Praxis der Napstergemeinde, die technische Geräte und einfache Programme anwendet, um ihren eigenen, durchaus nicht kommerziellen Nutzen zu vermehren.

Punkt für Punkt, Klausel für Klausel erörtert das Gericht, warum diese neue Praxis das alte Recht verletzt. Selbst eine Kanzlei wie Boies, Schiller & Flexner, die auch – und erfolglos – Al Gores Klage um die Stimmzettel von Florida vertrat, wird vermutlich nicht zeigen können, dass dem nicht so sei. In einem ersten Kommentar wirft Boies dem Gericht lediglich vor, es habe die den Verkauf von Musik-CDs nachweislich fördernde Wirkung von Napster nicht hinreichend beachtet. Das mag sein, ändert aber nichts am Grundkonflikt, den das Gericht mit bestechender Logik herausgearbeitet hat. Das Recht der Kläger auf den Verkauf ihrer Produkte könne nämlich niemals davon abhängen, so ist nachzulesen, ob sie ihre Produkte tatsächlich verkaufen. Es bestehe prinzipiell – und ebenso prinzipiell werde es verletzt, nicht durch plötzlich massenhaft auftretenden Ladendiebstahl, sondern durch das System, das die Firma Napster in voller Kenntnis der Folgen betreibe.

Neuer Markt der User

Das ist lehrreich in fast jeder Hinsicht. Niemand sollte weiter davon schwafeln, dass Systeme wie Napster Musiker und andere Künstler oder Autoren brotlos machten. Es geht nicht um Honorare, sondern um die Vermarktung von Produkten, um das Eigentumsrecht von Verlagen und Medienunternehmen also, das heute an technische Grenzen stößt. Es geht deshalb auch nicht darum, einen rechtswidrigen Missbrauch des Internets zu verbieten, denn Napster ist nichts weiter als eine logische Konsequenz des Internets selbst. Es hat ein Medium erzeugt, das von den Empfängern beherrscht wird, nicht von den Sendern. Wenn Medienunternehmen diese Technik nutzen wollen, müssen auch sie sich ihren Gesetzen unterwerfen.

Natürlich darf man gespannt sein, wie der Prozess um Napster im Einzelnen weitergeht. Das Ergebnis jedoch steht heute schon fest. Selbst wenn die Firma Napster geschlossen wird, lässt sich das Urheberrecht, das die Kläger jetzt noch verteidigen, nicht mehr lange halten. Wahrscheinlich werden schon bald leicht bedienbare, zuverlässige, aber kostenpflichtige Abonnentensysteme mit eher sperrigen, dafür aber kostenlosen Hackernetzen friedlich koexistieren. Beide zusammen werden eine Revsion des Urheberrechts erzwingen, deren Reichweite noch gar nicht abzusehen ist. Ein völlig neuer Markt entsteht, der allein darüber entscheidet, wer wie viel und wofür bezahlen will. Nach dem Vorbild des alten Usenet werden sich die Nutzerinteressen immer weiter ausdifferenzieren, Fangruppen werden ihre eigenen Stars finanzieren, und kein Verleger wird seinen Kunden dann noch vorschreiben können, was sie mit seinen Büchern, Filmen oder Musikwerken tun und lassen sollen. Sie werden sie nie mehr einfach nur konsumieren, sondern immer auch an möglichst viele andere weitergeben dürfen. Spätestens dann wird man feststellen, dass darin eigentlich schon immer der tiefere Sinn jeder Kultur bestand.

niklaus@taz.de