: So sind die jungen Leute
■ Meinhof = Houllebeq: Der Kieler Tanzchef Stephan Toss zeigte mit seiner Compagnie in Oldenburg seine eiskalte Sicht auf die Beziehungslosigkeit der Menschheit
Gestaffelte Plexiglaswände umstehen die Bühne, kahle Mauern ragen dahinter auf. Ein eisiger Kontakthof. Kalte Farben kleiden die TänzerInnen, wavige Plastikröckchen wippen in klinischem Blaugrün. Stephan Toss, der Kieler Tanzchef, ließ seine ZuschauerInnen jetzt in Oldenburg schon beim einfachen Anblick der Bühne gefrieren.
Mit seiner Choreographie „Intervalle“ greift er die Rede von der heutigen Beziehungslosigkeit auf, zitiert auch direkt Passagen aus Michel Houllebeqs Roman „Elementarteilchen“ im Programmheft – dahinter Auszüge von Ulrike Meinhofs „Briefe aus dem toten Trakt“ von 1972. Das ärgert, hier so ahistorisch alles mögliche zusammenzuwürfeln, um eine bestimmte Annahme bis zur Gewissheit zu illustrieren.
So! Doch jetzt zum Tanz. Die (neunzehnköpfige) Gruppe formiert sich trippelnd, wie auf Eis. Maschinenteile im synchronen Stakkato. Kleine Gruppen formieren sich, storchenbeinige Hüpfsoldaten durchkreuzen den Bühnenraum. Alles löst sich auf. TänzerInnen lungern rum, reden, einzelne versuchen sich in einsamer Präsentation, begutachtet von den Umstehenden. Kleine Narzissten sind das, die sich hier exponieren – zum guten alten Bach und dem zeitgenössischen Esten Arvo Pärt – mal elegisch, im Versuch, den eigenen Körperklang zu finden, mal exaltiert, mit kurzen Anspielungen an Madonna-Video-Clips der Achtziger.
Diese beiden Elemente setzen sich – immer exaltierter werdend – über anderthalb Stunden fort. Nur die Flucht in konforme Massenbewegung, sich reiben im synchron zuckenden Pulk ist denen als Nähe möglich: Big-Brother-Leben. Und ansonsten kreist jeder einzelne in epileptischem Krampf um das eigene Ich, ohne Haltepunkte. Bewegungsimpulse werden von der Hüfte aus in den Körper geschickt, Arme von der Schulter her in den Raum geworfen, von der anderen Hand zurückgeholt, Hände kreisen wie Spiegel vorm Gesicht, aus der Hüfte gedrehte Wendungen verebben im Raum.
Diese Wesen da krümmen sich von irgendeinem Wirbel aus ein, komische Insekten sind das, die ein ums andere Mal implodieren. Kleine Selbstverstümmelungen deuten sich an. In Nähe-Distanz Spielchen bleibt der Abstand stets gleich. Ein Mann nimmt als Elle dafür seinen Arm, greift den Kopf einer Frau, zieht ihn hin und her, um ihn dann wegzuschleudern, als er doch zu nah kommt. Frauen stoßen sich gegenseitig vom Parkett, alle rennen durch die Gegend, und am Ende steht wieder jeder allein da, regungslos im Lichtkegel, der so langsam erlischt.
Tolle junge TänzerInnen, viel Applaus vom etwas älteren Publikum („so sind sie, die jungen Leute“), wenig Komplexität, modischer Bewegungskanon mit kleinen, sehr beglückenden Momenten (eine Hand, die ganz was anderes macht, etwa). Die Botschaft: Wir sind halt alle Zombies. Doch dabei lässt sich ein gewisser Unmut nicht schlucken, dass Toss in Programm und Choreographie teilweise so plakativ vorgeht. Ansonsten: Im Westen nichts neues.
Marijke Gerwin
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