Geschlechterhopping

John Cameron Mitchells Trash-Musical „Hedwig and the angry inch“ im Panorama

Er war ein süßer Transvestit, und er kam aus Transsilvanien. Wenn er sang, rollte das r bei ihm tief in der Kehle, als hätte er sich mit der Zunge am eigenen Zäpfchen gekitzelt. Vulgär war’s damals, trashig und schön: das erste Mal „Rocky Horror Picture Show“, und all die angehenden ErzieherInnen sangen mit.

Vielleicht hat John Cameron Mitchell sich als Teenager auch sehr über Tim Curry gefreut. Ganz bestimmt hat er aber Farah Fawcett Major von „Drei Engel für Charly“ gemocht und Joan Collins, das Biest vom „Denver-Clan“. Und weil die Erinnerungen mit den Jahren melancholisch verschmelzen, begegnet man der ganzen B-Movie-Bagage in seinem „Hedwig“-Musical wieder. Ein bisschen Schulterpolster-Look hier, ein wenig Glittertop dort. Die Figuren aus dem Fernsehserienkabinett sind ihm praktisch auf den Leib geschneidert – so ist das eben, wenn Männer in Frauenkleidern auftreten. Deshalb hat Mitchell es doppelt gut: Er kann als Hedwig rauschgoldbarocke Perücken tragen, wie sie der Gott der Haarersatzteile schuf, und zugleich im Plastikmini über die Bühne toben, während seine Band „Die Internationale“ grungegerecht runterschrammelt. Ob Dresscode, Clubsound oder Liebesreigen, alles gehört zum großen lebensbejahenden Crossover.

Inzwischen ist Mitchell mit „Hedwig and the angry inch“ in New York so groß wie Madonna zu Zeiten von „Like a Virgin“. Der Rolling Stone mag seine Rockrevue für Punks und Tunten; und David Letterman mag den jungen Mann auch. Als bestes Off-Broadway-Musical wurde sein Stück nun gebührend verfilmt: Mitchell erzählt die Chronik eines former GDR-Boys, der sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht, um mit einem GI nach Kansas durchzubrennen, und dort als transsexuelles Blondie vor Truckern Konzerte gibt. Vor allem singt er diese Odyssee zwischen Ost und West, Mann und Frau, Metal und Gemüse mit einer wunderbar glammigen Stimme, für die man sich sonst immer die vielen Bowie-Platten gekauft hat. Stattdessen kann man jetzt den „Hedwig“-Soundtrack kaufen, der steht dann vor Heaven 17 und hinter Human League, also mitten in den Achtzigerjahren, auch wenn die Story nicht zum New-Wave-Retro passt, eher ins Geschlechterhopping der letzten Jahre.

Oder auf eine altgriechische Orgie wie in Platons „Symposion“. Schließlich ist es die platonische Sex-Parabel von den Menschen, die ursprünglich als gesamtgeschlechtliche Körperkugeln in den Tag lebten, bevor Zeus sie in zwei Teile zerschnitt, die als guter Geist über dem gesamten Setting schweben. Schon als kleiner Hansel träumte Hedwig von diesen paradiesischen Zuständen, als allen noch nichts fehlte. Nach der Operation ist sie aber weder das eine noch das andere, weil ein Stummel stehen geblieben ist: das „angry inch“ zwischen den Beinen, das die Orientierung sehr schwer macht.

Über diese Verschiebung grübelt Mitchell bis zum Schluss nach, das gibt dem White-Trash-Drama einen fast schon orphischen Charakter. Hedwig könnte tatsächlich durch eine von Jean Cocteaus Fantasien stöckeln, wäre da nicht ein Haufen illegaler Ostblock-Musiker ohne Pass und der Gegenspieler Tommy Gnosis, der erst durch die Zuneigung der blonden Transe sein Kirchkränzchen schwänzt, um später als erfolgreicher Rockstar die gemeinsame Liebe zu verraten.

Bis die beiden sich wieder finden, bis Rock und Hose eins werden, kann man mit Mitchells Hedwig leiden und über ihre tollen Kostüme kreischen. Das ist Aufklärung durch Rock ’n’ Roll, oder um es mit einem Song aus dem deutschen Idealismus zu sagen: „You, Kant, always get what you want.“ HARALD FRICKE

„Hedwig and the angry inch“. Regie: James Cameron Mitchell, USA 88 Min.