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: HELMUT HÖGE über Lob und Kritik

The International Compliment-Culture (ICC)

In Europa wird zuerst getadelt und dann gelobt, in den USA ist es umgekehrt. Amerika ist geradezu eine Komplimentkultur. Vielleicht kann man sie sogar mit Lob bekriegen? Endlose Comicserien befassen sich mit dem „American Psycho“: Was tun, wenn man wieder mal kein oder das falsche Kompliment gekriegt hat? In den USA fand die Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg auch den Unterschied zwischen einem innengeleiteten und einem außengeleiteten Menschen, Letzterer ist im Vormarsch. Und Ersterer schon eine „Antiquiertheit“, wie Günther Anders sagte.

Der Außengeleitete ist der bessere Geschäftsmann: Was will der Kunde respektive der Markt? Sieht man sich die Dokumente des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges an, wird bereits deutlich, dass da eine Händler-Revolution stattfand. Einige Kriegsforscher meinen, dass der Partisan in den Autonomie-Kämpfen der nordamerikanischen Provinzen entstand. Tatsache ist, dass dort jetzt eine „Guerilla Marketing“-Strategie für kleine und mittlere Unternehmen kreiert wurde.

Im Zweiten Weltkrieg neigte ein Großteil der US-Strategen bereits dazu, statt die Partisanen zu unterstützen „Deals“ mit den Deutschen anzugehen. Die amerikanische Komplimentkultur ist auch eine demokratisierte Höflingsetikette. Außerdem muss sie „die Gesellschaft“ ersetzen. Der Amerikaner war vor dem Staat da, in Europa ist es umgekehrt: Der Staat ist immer zuerst da. Deswegen ist die einflussreiche „Amerikanische Privatwaffenträger-Vereinigung“ (ARA) auch eine demokratische Art von Antimilitär, wie überhaupt dort die „Army“ (das Heer) ein Fremdkörper geblieben ist und wahrscheinlich über kurz oder lang zugunsten von Antipartisanen-Spezialeinheiten aufgelöst werden wird.

Bei der Air Force, wo ich drei Jahre dolmetschte, verstand ich viele Befehle gar nicht als Befehle, sondern als höfliche Bitten, die dann jedoch – ebenso seltsam – von den lässigen Soldaten befehlsgemäß ausgeführt wurden. Die Darwinsche Durchlässigkeit wird dort mit Komplimenten befördert. Während man hier zum Beispiel dem vietnamesischen Gemüsehändler seine ewige Freundlichkeit kaum abnimmt.

Deswegen konnte der „unhöflichste Thailänder Berlins“ (ein Imbiss in der Schönhauser Allee) auch gleich zu einem „echten Geheimtipp“ (Der Spiegel) aufsteigen. Hier setzt man nun nämlich – vorneweg die Russen – eher auf Lamarck als auf Darwin – der Mensch ist lernfähig, man muss ihn nur oft und gut genug tadeln! Das geht bis zum preußischen Selbsttadel und der kommunistischen Selbstkritik. Ich bin inzwischen derart amerikanisiert, dass ich in den Zeitungsredaktionen an keiner „Heftkritik“ mehr teilnehmen kann, weil mir dieses Rumtadeln so auf den Wecker geht: ich brauche eher Aufmunterung, Wind unter den Flügeln – Komplimente. Als jemand, der an das Zwingende der Ökonomie glaubt, neige ich sowieso zur Lobsuche – u. a. in Form von Historiker-Rechthaberei.

Eine Spielart davon ist der westdeutsche Journalismus, der sich die Phänomene fortwährend dadurch interessant macht, dass er sie zum Trend überhöht. So wurden aus forschen Frankfurter Sozialanalytikern und Wahrheitssuchern raunende Trend-Scouts. Das ist aber keine echte Investitionsforschung – im Gegensatz zum Kompliment, das ein Wechsel auf die Zukunft ist, dazu eine Beschwörung, ein Ritual und eine Gabe, die man mit gleicher Münze heimgezahlt bekommt (wenn alles gut geht).

Hierzulande hilft gegen alle obrigkeitsstaatlichen Verfügungen – jeden Dienst freudig und freundlich zu absolvieren – erst einmal nur noch, „Kraft durch Nörgeln“ (KdN) zu schöpfen. So freuen sich z. B. noch heute viele Verkäuferinnen im Osten „klammheimlich“, wenn sie barsch sagen können „Ham wa nich!“ Übrigens kommt es dort neuerdings vor den Läden sogar wieder zur nostalgischen Schlangenbildung (durch vor allem ältere und schlecht gelaunte Kunden): Was daran liegt, dass wir hier früher „eher eine Kultur der Nähe gepflegt haben“, wie der Betriebsratsvorsitzende von Opel Eisenach es ausdrückte. Neulich hörte ich, wie eine Punkerin im Friedrichshainer „Fischladen“ zu ihrem Freund sagte: „Äi, du siehst aber heute voll beschissen aus.“ Ihr Freund freute sich über diese Begrüßung. Es geht also doch! So langsam setzt sich die Komplimentkultur auch in Ostdeutschland durch. Zum Schluss sei noch mein Freund Frank Splanemann zitiert, der bei dieser oder jener Muffelei zu sagen beliebt: „Dafür haben wir 89 aber nicht hinter den Gardinen gestanden!“